18. Juni 2017
1995 begann in Berlin eine Turniergeschichte, die schon bald Kinder nicht nur aus dem engsten Umfeld, sondern schnell auch aus anderen Landesverbänden nach Berlin zog. In diesem Jahr fand das Abrafaxe-Kinderschachturnier bereits zum 21. Mal statt. Sein Macher Thomas Neumann übernahm schon beim ersten Turnier als 15-Jähriger teilweise die Leitung vom Turniererfinder Markus Spindler. In einem Interview für Herderschach sagte Neumann 2016: "Unser damaliger Trainer Markus Spindler wollte ein Turnier organisieren, das für Anfänger besonders gut geeignet ist und uns dabei gleichzeitig beibringen wie man gute Schachturniere organisiert."
Am Sonnabend, den 17. Juni, kamen 330 Kinder mit ihren Eltern, Trainern und Betreuern in die Mildred-Harnack-Oberschule nach Berlin-Lichtenberg um in fünf Altersgruppen und sieben Runden Schnellschach die Preisträger zu ermitteln.
Fast der ganze Verein SC Borussia Friedrichsfelde ist beim Abrafaxeturnier auf den Beinen. Der Arbeitsaufwand ist immens, wenn Hunderte Kinder, die sich über alle vier Etagen der Schule verteilen, betreut werden müssen. Dazu kommen die vielen Eltern und Betreuer, die vor und während der Runden um ihre Schützlinge wuseln und die Orgateammitglieder mit Fragen löchern. Da sprang auch manch einer der fachkundigen Trainer mal ein, um den Eltern die Buchholzwertung zu erklären.
Lotta Berghold (12) und Lea Ludwig (13) gehören zu den weitaus Jüngsten im Orgateam. Sie absolvierten erst vor Kurzem erfolgreich einen Verbandsschiedsrichterlehrgang des Berliner Schachverbandes, wo sie bereits den Altersschnitt kräftig senkten. Beim Abrafaxeturnier hätte zumindest Lotta noch mitspielen dürfen, doch sie zog es wie ihre Freundin vor, das im Kurs erlernte Regelwissen gleich in der Praxis umzusetzen.
Viel Gelegenheit dürften die Beiden dafür nicht bekommen haben, denn gerade in den Gruppen D ("Die Ratten") und E ("Eichhörnchen"), wo Lea und Lotta eingesetzt waren, setzte die Turnierleitung einen Teil der FIDE-Regeln außer Kraft. So schritt eine Schiedsrichterin in einer Partie mit dem Endspiel K+T gegen K erst ein, als gleich vielfach die Züge wiederholt wurden - und entschied auf Remis. Noch turbulenter ging es an einem Nebenbrett zu. Hier hatte der mit Weiß spielende Junge ein Arsenal von Schwerfiguren angehäuft, auf den nackten König seiner jungen Gegnerin gehetzt und rief "Matt". Es stellte sich aber schnell heraus, das der König noch ein freies Feld hatte. Unter den Augen der erwachsenen Schiedsrichter und Betreuer wurde die Partie fortgesetzt. Nach ungefähr 20-30 weiteren und zumeist regelwidrigen Zügen (König zieht ins Schach oder bleibt dort stehen), wobei auch mehrfach ein Patt auf dem Brett stand, schritt die Schiedsrichterin erst bei der Zeitüberschreitung durch die junge Dame ein.
Daß es die Kleinen schon faustdick hinter den Ohren haben und den Erwachsenen mit Ausreden bei einer Niederlage in nichts nachstehen, erlebte ich selbst live. Das Mädchen hatte K+D+S, der Junge K+T und beide auch noch mehrere Bauern. Ein zweizügiges Matt war jetzt möglich, doch das Mädchen zog die Dame auf ein anderes Feld und stellte dabei den Springer ein. Den nahm der Junge aber nicht raus und gab stattdessen Schach. Gerettet hat ihn das trotzdem nicht, drei bis vier Züge später wurde er mattgesetzt. "Das war aber ganz knapp!" versuchte er danach den Sieg seiner Gegnerin kleinzureden. Ich und ein Betreuer grinsten uns an.
Abrax, Babrax und Califax ("Abrafaxe") sind drei Figuren der ostdeutschen Comic-Zeitschrift Mosaik, die lt. Wikipedia "der älteste und auflagenstärkste noch erscheinende Comic deutscher Produktion" ist. Das Mosaik erschien erstmals im Dezember 1955, damals noch mit den Digedags als Hauptfiguren. Erfinder der drei Kobolde war der Grafiker Hannes Hegen, der mit seinem Team die monatlich erscheinden Hefte zeichnete. Ein Abonnement für das Mosaik war in der DDR so gut wie nicht zu bekommen. Im freien Handel mußte man den Verkäufer schon direkt nach dem Mosaik fragen, um vielleicht noch ein Heft zu erhalten, was unter dem Ladentisch lag. Aber oft waren auch diese sehr schnell vergriffen.
Mitte der 1970er Jahre geriet Hegen in Streit mit dem Verlag, worauf monatelang kein Mosaik erschien. Anfang 1976 brachte das Mosaik-Kollektiv ohne Hegen das erste Abrafaxe-Heft heraus. Die neuen Figuren stießen bei den Lesern zuerst auf wenig Gegenliebe. Doch das änderte sich mit der Zeit und neuen Generationen von jungen und älteren Lesern.
Die Mosaik-Zeitschrift ist von Beginn an Sponsor und Namensgeber des Abrafaxe-Kinderschachturniers. Neben Werbeartikeln und Mosaikheften stellt der Verlag dem Turnier auch überlebensgroße Figuren der Abrafaxe zur Verfügung. In diesem Jahr sah man diese leider nicht in Aktion, deshalb hier ein Foto aus 2016:
Seit meiner Niederlage bei der Berliner Veranstaltung der Faszination Schach bin ich ein Fan des 9-jährigen Felix Reichmann, dessen Eltern Beate Pfau (DWZ 1950) und FM Hendrik Reichmann (2284) überdurchschnittlich gute Schachspieler sind. Im Dezember 2016 wurde Felix mit seinem Verein Schachfreunde Nord-Ost Deutscher Meister in der Altersklasse U10. Einen Monat später gewann er auch den Berliner Meistertitel seiner Altersklasse, diesmal im Einzelwettbewerb. Bei der DJEM vor Kurzem erreichte er Platz 16 in der U10.
Beim Abrafaxeturnier war Felix mit DWZ 1514 auf Setzlistenplatz 5 notiert. Großer Favorit war der 13-jährige Niclas Hommel (DWZ 1847, TSG Oberschöneweide). Doch Niclas konnte seine Spielstärke nicht gut genug auf das Brett bringen, überschritt in Runde 5 in bereits schlechterer Stellung die Zeit und verlor in der letzten Runde unglücklich. Mein Geheimtip Felix dagegen gab in den sieben Runden nur einen halben Punkt ab und gewann souverän das Turnier!
Hier noch ein paar Bilder und ein Videozusammenschnitt vom Turnier:
Übersichtsseite Abrafaxe-Kinderschachturnier
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 22051