6. Oktober 2014
Ich beginne mal mit ein paar Bemerkungen zum "Innenleben" des Autors. Berichte jeweils zum Ruhetag, statt täglich nach jeder Runde, haben Vor- und Nachteile. Nachteil ist, dass man unmöglich auf jede Partie eingehen kann, Vorteil dagegen, dass man nicht auf jede Partie eingehen muss - wie sagte der niederländische Fussball-Philosoph Johan Cruyff: "jeder Vorteil hat seinen Nachteil". Ausserdem steht oft bereits nach drei von vier Runden das Konzept, und dann sollte am letzten Tag nichts dazwischen kommen. Ich bedanke mich bei den Herren Mamedyarov und Nakamura, dass sie mein Konzept a) bestätigt, b) nicht durcheinander gebracht haben.
Zunächst die nackten Fakten, der Zwischenstand nach vier von elf Runden: Caruana und Gelfand 3/4, Nakamura und Svidler 2.5, Kasimdzhanov, Tomashevsky, Karjakin, Radjabov 2, Dominguez und Grischuk 1.5, Mamedyarov und Andreikin 1. Damit kommen Caruana und Gelfand, vor ihrer Partie in der zweiten Runde, auf das Titelbild (Quelle Turnierseite).
Ein geplantes - und umgesetztes - Motiv sind Parallelen zwischen Fabiano Caruana und dem Autor dieser Zeilen. Was gemeint sein könnte, sage ich noch nicht - dafür muss der Leser sowohl die Partien der ersten vier Runden kennen, als auch einen meiner Beiträge auf Schach-Welt. Nicht gemeint ist, dass wir beide Brillenträger sind oder waren (derzeit habe ich meistens Kontaktlinsen) und dass wir beide dunkelhaarig sind und hoffentlich bleiben. Ich habe inzwischen das eine oder andere graue Haar, schliesslich bin ich mehr als doppelt so alt wie der jüngste Teilnehmer in Baku, und auch knapp ein Jahr älter als der Turniersenior - beide spielen eine Hauptrolle im Artikel, zusammen mit der Schachuhr.
Zunächst noch ein paar Worte zu Boris Gelfand. Ich könnte aus Kramniks Vorwort zu dessen "My most memorable games" zitieren, aber das kennen einige Leser vielleicht schon. Stattdessen zitiere ich eine auch hierzulande relativ unbekannte niederländische Quelle, meinen Vereinskollegen Jaap Dros auf unserer Vereinshomepage. Er war zusammen mit mir bei der Tata Steel Runde im Reichsmuseum Amsterdam und schrieb hinterher u.a. dies: "Der aller-witzigste Grossmeister [zuvor kamen einige Worte zu Giri und Nakamura] ist doch Boris Gelfand ... . Obwohl körperlich nicht mehr als 'gut beieinander', erinnert er mich an einen Elefanten: eine sehr freundlich ersheinende Figur, mit den Händen auf dem Rücken schlendert er über die Bühne, Kopf weit nach unten so dass die markante Nase an einen Rüssel erinnert. ... Einmal lief Gelfand so weit, dass eine Kollision mit der Mauer unvermeidlich schien. Ich zuckte bereits zusammen, aber einige Zentimeter vor der Mauer hielt er plötzlich an, drehte sich um 180 Grad und ging zurück an sein Brett." Auch so kenne ich Gelfand, auch bei anderen Gelegenheiten. Später habe ich seine gemeinsame Analyse mit Aronian mitbekommen, faszinierend obwohl oder gerade weil sie Russisch sprachen und ich nur sah, wie die Figuren in hohem Tempo übers Brett flogen - danach ergab sich die Gelegenheit zu kurzen Fragen auf Englisch. Gelfand ist seit Jahrzehnten zumindest erweiterte Weltklasse und hatte seit seinem WM-Match gegen Anand bereits einige sehr erfolgreiche Turniere (allerdings auch schlechte Ergebnisse), demnach ist sein bisheriger Auftritt in Baku keine grosse Überraschung. Bekannt ist er - wie schon erwähnt - auch als Buchautor. Derzeit arbeitet er offenbar an einigen Büchern, darunter eines über positionelle Opfer - vielleicht nun auch mit neuen eigenen Beispielen aus Baku, drei seiner vier Partien könnten passen.
Caruana war dagegen nicht Täter sondern Opfer von Opfern - das hat er mit mir gemeinsam. Letztes Jahr bekam ich innerhalb von zwei Monaten drei Qualitätsopfer vorgesetzt und schrieb darüber einen Artikel; Caruana brauchte dafür nur vier Tage (spielt allerdings auch mehr Partien mit klassischer Bedenkzeit). Ich erzielte 3/3, Caruana nur 2,5/3 - bin ich etwa besser? Mal abgesehen davon, dass derlei Bemerkungen offensichtlich nie ernst gemeint sind, lag es vielleicht auch am gegnerischen Niveau - bei Caruana dreimal Elo 2700+, bei mir 1714, 1791 und immerhin 2140. Nach dieser langen Einleitung nun kurze Rundenberichte mit klarem Schwerpunkt Caruana und Gelfand:
Runde 1: Gelfand zerlegte Andreikin mit einem positionellen Bauernopfer bereits in der Eröffnung, nach 23 Zügen war Feierabend. Das Opfer war bereits bekannt, aber Gelfands Interpretation neu und sicher theoretisch relevant. Caruana tat sich mit Schwarz gegen Karjakin zunächst schwer: lange stand Weiss eher besser, dann opferte Karjakin eine Qualität was wohl spielbar war. Aber kurz danach übersah er Caruanas vernichtenden Konter - Zeitnot spielte wohl eine Rolle, zum ersten aber nicht zum letzten Mal im Turnier.
Runde 2: Caruana und Gelfand spielten gegeneinander. Caruana hatte eine neue Idee gegen Gelfands geliebten Najdorf-Sizilianer, Gelfand konterte mit einem Qualitätsopfer. Nach einigen Komplikationen (mir fehlt die Zeit und die Kompetenz, um das gebührend zu besprechen!) endete die Partie mit Remis durch Dauerschach. Da war die Zeit am Ende auch etwas knapp - nicht verwunderlich angesichts der komplizierten Stellung. Noch knapper war sie bei Grischuk-Karjakin, Karjakin blieb ein deja vu erspart: wieder stand er zunächst besser, dann auf Verlust - aber in Zeitnot verschoss Grischuk zwei Elfmeter und nach dem 40. Zug stand ein Remisendspiel auf dem Brett, das beide dann noch sechs Züge übten. Das war noch nicht alles aus Sicht von Grischuk, aber ich greife den Ereignissen voraus.
Runde 3: Caruana hatte Schwarz gegen Nakamura, der ihn scharf attackierte und beinahe ausgekontert wurde. Da Caruana einige - keinesfalls naheliegende - gewinnträchtige Fortsetzungen verpasste, endete diese Partie remis. Gelfand erhielt gegen Grischuk fast aus der Eröffnung heraus ein Turmendspiel mit Mehrbauer - das ist objektiv entweder gewonnen oder remis, ich wage da kein Urteil. Dann kam die zweite Zeitnotphase vor dem 60. Zug, und die Stellung auf dem Brett wurde Nebensache - zwischenzeitlich stand Gelfand gewonnen, dann war es wieder objektiv remis, und dann dies:
Ich brauchte ein paar Versuche, um das Video genau im richtigen Moment anzuhalten und diesen Screenshot zu erzeugen. Was war passiert? Grischuk brauchte für seinen 60. Zug einen Sekundenbruchteil zu lange - Zeitüberschreitung! Er war zwar in seiner Karriere schon zigmal in extremer Zeitnot, aber das passierte ihm bisher noch nie. Gelfand bekam bereits 15 Minuten plus 30 Sekunden Inkrement dazu, das heisst er schaffte die Zeitkontrolle mit noch fünf Sekunden auf der Uhr. Im Internet wird vielfältig diskutiert, warum es Inkrement erst ab dem 60. Zug gibt - meine Meinung dazu: Spieler sind selbst dafür verantwortlich, ihre Bedenkzeit angemessen einzuteilen, aber dazu kann man geteilter Meinung sein.
Runde 4: Caruana bekam auch von Mamedyarov wieder ein Qualitätsopfer vorgesetzt, diesmal war es wohl inkorrekt und bereits aus der Not geboren. Mamedyarov opferte danach noch mehr Material, Caruana musste einige genaue Züge finden und dann gab Mamedyarov auf. Gelfand opferte mit Schwarz gegen Dominguez in einem Sveshnikov-Sizilianer mit - für diese Variante ungewöhnlich - langer weisser Rochade einen Bauern. Dafür bekam er im Endspiel mit beiderseits Damen und zwei Türmen (ist das bereits ein Endspiel?) viel aktivere Figuren und potentiell Drohungen gegen den weissen König. Da er keine konkrete gewinnträchtige Fortsetzung fand, wiederholte er zum Schluss die Züge, also Remis.
Nakamura hatte ich eingangs erwähnt: er hätte zur Spitze aufschliessen können, wenn er seine (jedenfalls optisch) sehr vielversprechende Stellung gegen Grischuk gewonnen hätte, aber auch hier wurden am Ende die Züge wiederholt. Grischuk dazu in der Pressekonferenz: "Ich wählte die schlechteste Variante gegen Königsindisch. Ein Freund hatte das empfohlen und nannte 15.Tc1 eine starke Neuerung. Aber dann wusste ich nicht, wie weiter, und grübelte 50 Minuten an 18.Sb5. Später hatte ich die hässlichste Stellung meiner Schachkarriere auf dem Brett." Ebenfalls sehr unterhaltsam war heute die Pressekonferenz von Svidler und Kasimdzhanov, aber ich kann ja nicht alle Partien (und Pressekonferenzen) besprechen ... .
Noch sind sieben Runden zu spielen, alles ist möglich im Turnier und auch auf der Live-Ratingliste wo Caruana momentan weitere fünf Punkte auf Carlsen eingeholt hat.
P.S.: Ergänzung bzw. halbe Korrektur zum Vorbericht. Ich schrieb, dass nur ein Turnier der letzten GP-Serie wie geplant in einer westlichen Metropole (Paris) ausgetragen wurde. Da war doch auch noch ein Turnier in London? Stimmt, allerdings war das anfangs nicht geplant: London war kurzfristiger Ersatz für Tscheljabinsk - dem Vernehmen nach wollte der russische Schachverband nicht einen (den bekamen sie - Morozevich) sondern mehrere Freiplätze für russische Spieler und konnte sich darüber nicht mit FIDE/AGON einigen. Ausserdem war das Londoner Turnier quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit am feinen aber sehr kleinen Austragungsort Simpsons in the Strand. Sinn und Zweck von Turnieren in Metropolen ist aus meiner Sicht, dass viele Schachfans aus der Metropole und Umgebung zuschauen können. Dieses Thema - was ist der "richtige" Rahmen für ein Spitzen-Schachturnier? - werde ich vielleicht bei Gelegenheit anderswo vertiefen.
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 18935
Kommentare
Einen Kommentar schreiben
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.