10. Juli 2012
Die wirklich guten Geschichten, liegen auf der Straße, man muss sie nur aufheben. Das trifft auch auf jene zu, bei denen Schach das bestimmende Thema ist. So wie jene von Thomas Penninger vom SV Saarbrücken, der mit unglaublichem Lebensmut mit seiner bisher nicht heilbaren Krankheit Multiple Sklerose umgeht, und dabei neben der Musik das Schachspiel als Kraftquell nutzt. Mit ihr hatten wir am 19. April unsere neue Rubrik EINBLICKE gestartet - auch in der Hoffnung, weitere Beiträge zu veröffentlichen. Und fast 700 Aufrufe bestätigen uns, dass wir richtig liegen...
Den folgenden Beitrag verdanken wir dem SCHACH-MAGAZIN 64. In der aktuellen Juli-Ausgabe in der u.a. das Tal-Memorial in Moskau, die Frauen Schnellschach- und Blitz-WM in Batumi und ein sehr interessantes Interview mit Meistertrainer Adrian Michaltschischin Schwerpunkte setzen, hat Chefredakteur Otto Borik auch einer Behinderten-Schachgruppe aus der Osnabrücker Werkstatt Hilter im Teutoburger Wald eine Plattform gegeben. Die Anregung kam übrigens von der Leiterin der Einrichtung Dr. Cornelia Kammann, die mit der Veröffentlichung hofft, vielleicht anderen Behindertem Mut zu geben. Doch lesen Sie selbst und bilden sich ihr Urteil...
Schachgruppe der Werkstatt für Menschen mit Behinderung
Hilter. "Christian putzt uns häufiger mal vom Brett", sagt Stefan Fehlbier. Gerade ist sein König matt gesetzt worden. "Macht nichts, demnächst bin ich wieder am Zug", sagt Stefan. Zwölf weitere Schachspieler treten an diesem Nachmittag miteinander und gegeneinander an. Der Halbjahresmeister wird ermittelt. "Der Wettkampf ist wie bei jedem anderen Sport das Salz in der Suppe", sagt Spielleiter Falk-Rainer Demmel. Allerdings ist seine Schachgruppe eine ganz besondere.
Vor 15 Jahren gab Christian Niebrügge den Anstoß zur Gründung der Schachgruppe der Osnabrücker Werkstatt Hilter im Teutoburger Wald. Der heute 35-Jährige hat Koordinationsstörungen und braucht im täglichen Leben Unterstützung, aber nicht beim Schachspielen. Christian war keine zehn Jahre alt, als seine Eltern Bärbel und Helmut Niebrügge das Talent ihres schwer behinderten Sohnes entdeckten und förderten. "Christian hat ein außergewöhnlich gutes strategisches Gespür", berichtet Helmut Niebrügge stolz. Also wurde Christian aktives Mitglied im Schachverein Versmold.
Hier wurden seine Schachziele höher gesteckt. Christian Niebrügge wünschte sich, noch häufiger mit Gleichgesinnten das königliche Spiel auszuprobieren. Mit diesem Wunsch war er nicht allein, denn sein Versmolder Spielleiter, Falk-Rainer Demmel, war zugleich Arbeitspädagoge in der Osnabrücker Werkstatt Hilter, in der 250 Menschen mit Behinderungen arbeiten. Der Wunsch fand auch bei der Werkstattleitung große Zustimmung, so dass 1998 die Schachgruppe Hilter gegründet wurde.
Die neun Spieler, die damals einstiegen, sind noch heute mit Feuereifer dabei, andere kamen hinzu. Alle Mitglieder tragen ihr T-Shirt. "Schach ist cool" ist darauf in knallgelben Buchstaben zu lesen. Diese Club-Kleidung tragen sie seit ihrem 10-jährigen Jubiläum vor vier Jahren. Pokale und Urkunden sind in der Werkstatt ausgestellt und die beweisen, wie gut sich die Werkstattspieler bei vielen öffentlichen und internen Wettbewerben schlagen. Beim Schachspiel gibt es nämlich keine Barrieren, nicht auf dem Brett und erst recht nicht zwischen den Schachsportlern mit und ohne Behinderung.
Die 13 Schachspieler und ihre Spielleiter Falk-Rainer Demmel und Bärbel Niebrügge treffen sich an jedem Mittwoch zwischen 16 und 18.30 Uhr im Saal der Werkstatt Hilter. Spielleiter Demmel ist zwar inzwischen im Ruhestand, aber für seine Schachgruppe kommt er gern hierher. Niemand aus der Gruppe lässt sich diesen Nachmittag nehmen, alle freuen sich auf spannende Matches und auf ihr Wiedersehen. Manchmal seien die schachlosen Werksferien viel zu lang, versichert Julia Niemeyer. Ihr Mitspieler Werner Tholen sieht das auch so, er vertreibt sich die Zeit von Mittwoch bis Mittwoch Zuhause am Schachcomputer.
Für die Gruppe - neun Männer und vier Frauen - ist Schach viel mehr als ein Brettspiel. Schach macht Spaß, es fördert die Konzentration, die Motorik und in dieser Gruppe ganz besonders den Gemeinsinn. "Jedes Spiel trägt dazu bei, dass das Selbstbewusstsein gestärkt wird und der Spaß am Schachspiel liegt hier jeden Mittwoch in der Luft", sagt Werkstattleiterin Dr. Cornelia Kammann, die mit Markus Kolbe vom Bildungs- und Freizeitwerk der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück, diese Gemeinschaft und ihren Lieblingssport nach Kräften unterstützt.
"Unsere Spieler mit Handicap würden auf einem Level von Kreisliga oder Bezirksklasse bestehen". So stuft Falk-Rainer Demmel die Spielstärke seiner Gruppe ein. Bei jedem Treffen kommen neue Erfahrungen hinzu. Jedes Spiel ist Forderung und Förderung, Erlebnis und barrierefreies Leben in einem. Dazu gehört auch Training. "Heute üben wir die Eröffnung", gibt der Spielleiter vor. Techniken und Regeln werden wiederholt und immer neue Eröffnungsvarianten aufgestellt. Beim Training wird viel miteinander gesprochen. "Du musst den König mehr beschäftigen", rät Bärbel Niebrügge. Am Brett nebenan wird Mattsetzen geübt. "Was kann Schwarz jetzt noch machen?" fragt Falk-Rainer Demmel. Nicht viel, sieht Spieler Sebastian ein. Ein kurzer emotionaler Ausbruch, dann wird gelacht und neu überlegt, ganz normal eben. "Bei uns wird jeder aufs Neue motiviert", sagt Falk-Rainer Demmel.
Zurück zu Christian Niebrügge, der gerade seinen zweiten Sieg an diesem Tag eingefahren hat. Dass er ohne Hilfe sein Spiel machen kann, liegt an einem Spezialbrett. Sein Vater hat es für ihn entworfen und gebaut. Die Figuren sind mit einem knapp drei Zentimeter langen Fuß verlängert. In das Brett ließ Helmut Niebrügge pro Feld Vertiefungen ein. Hat Christian den nächsten Schachzug im Kopf, greift er trotz seiner Bewegungseinschränkung gezielt zur Figur, hebt sie auf und versenkt sie in das Feld seiner Wahl. Turm und Läufer blieben dort sicher bis zum nächsten Zug, weder Dame noch König kommen zu Fall. In Hilter ist das Ziehen, Springen oder Mattsetzen eben keine Frage der Behinderung.
Einen Eindruck der Osnabrücker Werkstatt Hilter im Teutoburger Wald vermittelt die Homepage www.os-hho.de.
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Bleibt abschließend anzumerken, dass wir uns bei Otto Borik für die bedanken, den Beitrag ohne Auflagen zu veröffentlichen. Und natürlich würden wir uns über Ihre ganz persönliche (Schach-)Geschichten, die das Leben schreibt, sehr freuen Sie dürfen diese jederzeit an raymund.stolze@t-online.de schicken, damit wir sie dann - Ihr Einverständnis selbstverständlich vorausgesetzt - auf der DSB-Homepage öffentlich machen können...
Raymund Stolze
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 414