29. Oktober 2014
Morgen dürfen sich die Spieler in Taschkent vor den entscheidenden letzten drei Runden ausruhen - und da ich jeweils vor den Ruhetagen berichte, darf ich heute mal wieder das bunte bisherige Treiben zusammenfassen. Leitmotiv ist, wie oben bereits angedeutet, "Favoriten und Spielverderber". Favoriten sind dabei diejenigen, die in der GP-Gesamtwertung vorne mitspiel(t)en. Spielverderber sind diejenigen, denen ich in der Gesamtwertung keine grossen Chancen einräume, die allerdings in Taschkent einigen Favoriten ein Bein stellten.
Es gibt fünf plus zwei Favoriten und drei Spielverderber. Alles klar? Vielleicht sollte ich doch Namen nennen. Favoriten sind/waren in der Reihenfolge des Auftretens Caruana (schon vor der Serie und erst recht nach dem ersten Turnier in Baku), Gelfand (nach Baku), Vachier-Lagrave (erstes Turnierdrittel in Taschkent) und Nakamura (die letzten Runden). Karjakin nehme ich auch noch mit aber er ist eher ab- und nicht aufgetreten; wer mit "plus zwei" gemeint ist, da spanne ich die Leser noch ein bisschen auf die Folter. Spielverderber waren, der Reihe nach, Jakovenko, Jobava, Andreikin und nochmals Jobava.
Das ist der recht überraschende momentane Zwischenstand: Nakamura, Andreikin und Jobava 5/8, Vachier-Lagrave und Mamedyarov 4.5, Radjabov, Jakovenko, Karjakin, Caruana 4, Giri 3.5, Kasimdzhanov 2.5, Gelfand 2. Giri hatte ich ja auch auf meiner Rechnung - aber er spielte zunächst zu solide und hat diesen Eindruck dann in die verkehrte Richtung korrigiert. Nakamura bekommt sein Titelfoto (Quelle wie immer Turnierseite) - Jobava hatte ich bereits, Andreikin werde ich noch nachreichen.
Vor der Runde hatte ich die Chancen der Favoriten etwa so gesehen, zum Teil bereits im letzten Bericht erwähnt und zum Teil aufgrund zuvor aktueller Ergebnisse: Gelfand hatte bisher mit Schwarz sehr gute Resultate gegen Nakamura. Caruana hatte Mamedyarov mit Weiss dreimal hintereinander besiegt. Karjakin ist Favorit gegen Jobava. Vachier-Lagrave sollte mit Schwarz gegen den soliden Jakovenko nicht unbedingt gewinnen, aber jedenfalls nicht verlieren.
Und dann kam alles anders: Caruana-Mamedyarov 1/2 erwähne ich nur, weil es nicht zu meiner Prognose passte. "Shak" spielte diesmal betont solide, "Fabi" fand dagegen kein Rezept.
Jakovenko - Vachier-Lagrave 1-0! MVL ist Grünfeld-Experte, aber nicht unbedingt in diesem Turnier. Jakovenko wählte einen sogenannten Anti-Grünfeld Aufbau, der Franzose opferte ein bis zwei Bauern. Wenn er dafür jemals ausreichende Grünfeld-typische Kompensation hatte, dann nicht dauerhaft - 1-0 nach 47 Zügen. Wie üblich eine stark verkürzte Zusammenfassung dieser Partie.
Karjakin-Jobava 0-1! Ein Caro-Kann abseits etablierter Hauptvarianten, daran schuld war zunächst nicht der notorisch kreative Georgier, sondern sein generell solider und theoretisch unterbauter Gegner. Später konnte Jobava auf h3 einen Läufer opfern, derlei macht er "immer" wenn es einigermassen korrekt ist - und mitunter auch, wenn es inkorrekt ist. Hier hatte er Remis (Dauerschach) in der Hinterhand - "objektiv" war es sicher remis, aber Jobava konnte sich in Komplikationen durchsetzen. Zum Schluss mit freundlicher gegnerischer Hilfe: 30.Sh3 war für Weiss auch kein Zuckerschlecken, aber jedenfalls viel besser als 30.Se2?? Txe2! .
Nakamura-Gelfand 1-0 bekommt kein Ausrufezeichen, so ungewöhnlich ist es auch wieder nicht zwischen zwei etwa gleichwertigen Spielern. Es war ein mit 3.Lb5+ "abgelehnter" Najdorf-Sizilianer, der dann positionelles Fahrwasser erreichte. Beide opferten mal Bauern, mit am Ende einem Endspiel mit Türmen, Springern und vier gegen drei Bauern am Königsflügel. "Objektiv" war es womöglich remis, aber Nakamura gewann nach insgesamt 97 Zügen. War das eine positionelle Glanzleistung, ein Arbeitssieg oder ein ziemliches Gewürge? Das mag jeder selbst beurteilen. Damit übernahm Nakamura vorübergehend die alleinige Führung - der Leser weiss bereits, wer ihm dann Gesellschaft bot.
Diese Runde hatte wiederum zu viele Höhepunkte (auch einige Remispartien), um alles ausreichend zu würdigen. Ein Versuch mit Klimax am Ende: Gelfand - MVL 1/2 war ein "echter" Grünfeld-Inder. Wieder opferte der Franzose einige Bauern, wieder war es nicht unbedingt korrekt - aber diesmal entwischte er und verpasste dann die Chance, selbst auf Gewinn zu spielen. Jobava-Jakovenko 1/2 war turbulenter, als die total ausgeglichene Endstellung (Turmendspiel) vermuten lässt. Nakamura-Caruana 1/2 war beinahe die Wiederauferstehung des Italo-Amerikaners - aber nur beinahe, er konnte seinen Mehrbauern nicht verwerten. Giri-Radjabov 1/2 (Berliner Mauer) habe ich hiermit erwähnt. Mamedyarov-Kasimdzhanov 1-0 aus schlechter Stellung heraus. Bleibt noch Andreikin-Karjakin (siehe Foto wo der Weisse gerade 3.Lg5 entkorkt):
Zuvor geschah "normal" 1.d4 Sf6 2.Sf3 e6, danach (3.Lg5) 3.-c5 4.Sc3!? cxd4 5.Dxd4!? Sc6 6.Dh4 Lb4!? (6.-Le7) - noch sieben Partien in meiner Datenbank, am Elo-hochkarätigsten Ornstein (2440) - Schneider (2425), schwedische Meisterschaft 1985. "Alter Schwede" passt auch zum weiteren Partieverlauf - Andreikin kam mit der unorthodoxen Stellung besser zurecht als Karjakin, 1-0 nach 34 Zügen (Matt spätestens im 37. Zug, aber das liess sich Karjakin nicht zeigen).
Ich beginne mit Vachier-Lagrave - Jobava 1/2: Das war eine 3.e5 - Hauptvariante im Caro-Kann, jedenfalls die ersten sechs Züge, weiter ging es im Stile Jobavas mit 6.-h5, später g7-g5-g4 und dann opferte er mal wieder einen Läufer. Diesmal war es eher inkorrekt, auch wenn er dafür einige Bauern bekam, und wurde später doch remis. Zwei der eingangs genannten Favoriten meldeten sich zurück bzw. betrieben erfolgreich Schadensbegrenzung: Karjakin-Giri 1-0 war ein Taimanov-Sizilianer auf Umwegen: 1.Sf3 c5 2.e4 e6, und weiter 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sc6 5.Sc3 Dc7 6.Le3 a6 7.Df3!? - elfte Wahl laut Datenbank (irgendwo wurde es in einem Video als Überraschungswaffe empfohlen, aber wir machen doch keine Schleichwerbung). Giris Antwort 7.-Se5 war noch seltener - vielleicht noch spielbar, aber so wie er danach fortsetzte ging es schnell bergab. Karjakin verzichtete auf das offenbar bereits vernichtende 13.Sdxb5 und gewann später doch, am Ende aufgrund von 28.-e5? 29.Da6! und Schwarz kann/muss sich aussuchen, welche Springergabel er zulässt. Caruana-Gelfand 1-0 - in Baku war das noch ein unentschiedenes, dramatisches (schwarzes Qualitätsopfer) und womöglich eröffnungtheoretisch relevantes Spitzenduell. Diesmal hatte Gelfand nach der Eröffnung ohne drastische Massnahmen problemlos ausgeglichen, später übersah er in immer noch ausgeglichener Stellung einen kleinen taktischen Trick. So gewinnt Carlsen des öfteren, so gewann hier und heute Caruana.
Was die Spieler auch versuchten, fast alle Partien endeten Remis. Mamedyarov versuchte gegen Karjakins Nimzo-Inder das scharfe 4.f3 und bekam was er wohl wollte, eine komplizierte Stellung. Aber halt remis - geht in Ordnung, die Partie hatte keinen Verlierer und damit auch keinen Sieger verdient? Vachier-Lagrave versuchte gegen Andreikin Grünfeld-Indisch nebst, der Leser ahnt es vielleicht schon, Bauernopfer. Wieder war es womöglich nicht ganz korrekt, aber Andreikin begnügte sich mit einer Zugwiederholung. Eine Partie hatte doch Sieger und Verlierer - Gelfands schlechte Form gegen Jobavas Kreativität endete 0-1. Heute entkorkte Jobava 1.d4 e6 2.c4 b6!? 3.e4 Lb7. Gelfand legte später mit 7.f4 noch einen drauf, und im weiteren Partieverlauf zerlegte Jobava dieses maximale Bauernzentrum. Eine Figur opferte er dabei, 120% korrekt, erst im 30. und letzten Zug.
Vor dem Ausblick auf die letzten drei Runden noch ein Foto:
Am Freitag gibt es in Runde 9 ein Spitzenduell, und zwar Jobava-Andreikin. In Runde 10 ist Caruana-Karjakin beileibe kein Spitzenduell, und Mamedyarov - Vachier-Lagrave nach derzeitigem Stand ein Verfolgerduell. Tags darauf bekommen wir u.a. Vachier-Lagrave - Nakamura präsentiert. Das sind nur einige mögliche Höhepunkte. Nakamura spielt zunächst gegen Karjakin und Jakovenko, Jobava zum Schluss gegen Giri und Mamedyarov, Andreikin in den letzten beiden Runden gegen Gelfand und Giri. Wie eben schon angedeutet: auch Vachier-Lagrave und Mamedyarov können durchaus noch zur Spitze aufschliessen. Noch kurz die Rubrik Hätte, wenn und aber: Hätte Mamedyarov in der allerersten Runde sein gewonnenes Turmendspiel gegen Andreikin nicht verloren sondern gewonnen, dann läge er nun alleine vorne.
Und wer sind die "Favoriten sechs und sieben"? Damit meine ich Grischuk und Svidler, die diesmal pausieren. Sie drücken vermutlich ihrem Landsmann Andreikin und tendenziell auch Jobava die Daumen. Andreikin wurde in Baku Vorletzter, und auch bei Jobava wäre es sehr überraschend, wenn er in seinen beiden anderen GP-Turnieren wieder in den Kampf um den Turniersieg eingreifen kann.
Pl. | Name | Elo | Land | Pkt. | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 0 | 1 | 2 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1. | GM Baadur Jobava | 2717 | 5,0 | * | 0 | ½ | 1 | ½ | ½ | ½ | 1 | 1 | ||||
2. | GM Dmitrij Andrejkin | 2722 | 5,0 | * | ½ | ½ | 1 | 1 | ½ | ½ | ½ | ½ | ||||
3. | GM Hikaru Nakamura | 2764 | 5,0 | 1 | ½ | * | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | ||||
4. | GM Maxime Vachier-Lagrave | 2757 | 4,5 | ½ | ½ | * | ½ | 0 | 1 | ½ | 1 | ½ | ||||
5. | GM Schachrijar Mamedjarow | 2764 | 4,5 | 0 | ½ | * | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | 1 | ||||
6. | GM Sergej Karjakin | 2767 | 4,0 | 0 | 0 | ½ | ½ | * | 1 | ½ | 1 | ½ | ||||
7. | GM Dmitrij Jakowenko | 2747 | 4,0 | ½ | ½ | 1 | 0 | * | ½ | ½ | ½ | ½ | ||||
8. | GM Fabiano Caruana | 2844 | 4,0 | ½ | ½ | ½ | 0 | ½ | * | ½ | ½ | 1 | ||||
9. | GM Teimour Radjabow | 2726 | 4,0 | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | * | ½ | ||||
10. | GM Anish Giri | 2768 | 3,5 | ½ | ½ | 0 | ½ | ½ | ½ | * | ½ | ½ | ||||
11. | GM Rustam Kasimdschanow | 2706 | 2,5 | 0 | ½ | ½ | 0 | 0 | ½ | ½ | ½ | * | ||||
12. | GM Boris Gelfand | 2748 | 2,0 | 0 | 0 | ½ | 0 | ½ | ½ | 0 | ½ | * |
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 19042
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