17. April 2015
Es ist soweit, er selber fürchtet schon seit Längerem diesen Tag. Der Tag, an dem die FÜNF vorne hinkommt, an dem man sagen kann: „ich blicke auf ein halbes Jahrhundert zurück!“
Erstaunlich häufig nahm ich von Jörg in letzter Zeit so Äußerungen auf wie „man wird alt…“ „…was kommt da noch…“ oder „was hat man nur mit seiner Zeit gemacht…“
Ja, ich kann durchaus verstehen, dass es nachdenklich stimmt. Mir schwindelt auch schon vor der magischen 50er Grenze! Zum Glück habe ich noch vier Jahre, um das hinauszuschieben. Und ich habe noch ein Ziel: vor dem 50sten Großmeister werden! Wenn man schachlich schon alles erreicht hat bzw. nicht davon ausgehen kann, dass man seine Erfolge in der Zukunft noch toppen wird, ist es freilich schwer, sich zu motivieren.
Schon komisch: man reist ein bisschen in der Welt herum, schippert über die Ozeane, organisiert Lehrgänge, ist umtriebig als Schachpromotor jeglicher Couleur, ruft Zeitschriften und Internetplattformen ins Leben etc. etc. … und so nebenbei, beinahe unbemerkt, vergeht die Zeit!
Einen großen Vorteil hat es: man kann noch mit mehr Nachdruck im Schachseminar darauf verweisen, wie das „damals“ war. Damals, als eine andere Generation von Spielern um die Lorbeeren wetteiferte, als Informatoren und keine Engines die Phantasie der Spieler anregten. In der es kaum Datenbanken gab, und Schachwissen noch etwas für Eingeweihte war, für geheimnisvolle Großmeister, die ihren Schatz hüteten wie ihren Augapfel.
Ganz so weit weg ist diese Zeit gar nicht, und doch wirkt es heutzutage anachronistisch, wenn man auf die Neunziger zurückblickt. Wie aus einer anderen Welt wirken Turnierbeschreibungen aus dieser Zeit vor der Jahrhundertwende, BEVOR die Computer endgültig und nachhaltig Einzug hielten.
Wenn ich an Jörgs Schachlaufbahn denke, dann ist das freilich mit seinem wahrscheinlich größten Erfolg, dem Gewinn der Deutschen Einzel-Meisterschaft 1998 in Bremen verbunden. Ich selbst habe (als „hoffnungsvoller“ Endzwanziger, der endlich den IM-Titel machen wollte) an dieser Meisterschaft teilgenommen, durfte das Geschehen quasi aus der 1. Reihe begutachten (wenngleich ich mehr mit meinen eigenen Partien und Emotionen angefüllt war und den Kampf ums Preisgeld dann eher aus der Presse und dem Turnierbuch nachvollzog!). Aus gegebenem Anlass kam mir die Idee, die damalige Schach-Ausgabe aus dem Schrank zu holen – ich wurde tatsächlich fündig! Manchmal ist es doch was wert, wenn man alte Zeitschriften aufhebt, auch wenn`s viel Platz wegnimmt. Und falls dann der nächste Umzug ansteht …
„In der Schachwelt geht der Trend in den 90ern zu starken, gut dotierten Landesmeisterschaften. Jetzt hatten wir auch eine! Erstmals! Letztmals?“
Mit dieser prophetischen Frage leitete Raj Tischbierek seinen Artikel in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Schach ein. Es sollte in der Tat (bis heute zumindest) die letzte Deutsche Meisterschaft mit solchen Maßstäben ein: fast die komplette deutsche Elite am Start, die Hälfte der 48 Teilnehmer waren oder wurden noch Großmeister! Ein nie wieder dagewesener Preistopf, allein 30 000 DM (ja, damals gab es noch die gute alte Mark!) für den Sieger! Fürstliche Bedingungen im Maritim-Hotel zu Bremen, im großzügigen, runden Turniersaal waren an jedem Tisch extra Lämpchen angebracht, damit man optimale Lichtbedingungen erzeugen konnte. Die Favoriten hießen Artur Jussupow, Robert Hübner (der übrigens während der Veranstaltung seinen 50. Geburtstag beging!) Matthias Wahls und Christopher Lutz. Wahls gewann die vorigen beiden Meisterschaften, war also Titelverteidiger, Lutz siegte drei Jahre zuvor und sollte drei Jahre danach nochmal den Titel erringen.
Das Feld lag letztlich eng beieinander, der Ausreißer der ersten Turnierhälfte, Peter Enders, wurde wieder eingefangen. Jörg hielt sich zunächst mit solidem Spiel hinter der Spitze, streute einige Remisen ein und hatte nach sechs Runden 4 Punkte aufzuweisen. Dann kam diese Partie, die auch für die damaligen Betrachter und Journalisten (Tischbierek) so untypisch für ihn sein sollte: ein flotter Angriffssieg gegen die Nummer eins der Setzliste!
Hickl – Jussupow (nach 12. …Lc5-b4):
13. Sxg7!! b5 Denn bei … Kxg7 gewinnt 14. Dg4+ nebst 15. Dxb4 die Figur durch die Fesselung zurück. 14. Sf5! bxa4 Aber nun? Das folgende Diagramm brachte es immerhin auf den Titel der Schachausgabe, wie Sie weiter oben sehen können!
15. Dh5! Jörg, der die Partie für Schach kommentierte, gibt zu, dass er aus der Ferne glaubt, spektakulär mittels 15. Dg4+!?!? Sxg4 16. Sh6 mattsetzen zu können, doch der Sg4 deckt h6. Aber das Motiv bringt ihn auf den richtigen Gedanken: hübsch ist 15. … Sxh5 16. Sh6 matt. Nun droht Dg5+.
15...Kh8 16. Dg4! Das Fesselungsmotiv wird weidlich ausgeschlachtet.
16...Lxd2+ 17. Kxd2 Tg8 18. Dxa4 Txg2
„Das Material ist nun ausgeglichen, aber der riesenstarke Lb2 kann von Schwarz nicht unter Kontrolle gebracht werden.“ (Rainer Knaak)
19. Ke2! Dg8 20. Sg3! Kerkert den Tg2 ein und sichert die eigene Königsstellung.
20...Dg6 21. Tac1 Te8 22. Df4 c5 23. Kf1! Der König selbst holt die Qualität ab.
23. ...Txg3 24. Lxf6+ Sxf6 25. hxg3 Se4 26. Th6 Dg7 27. Td1 Te5 28. Kg2 Sg5 29. Tc6 h6
30. Txh6+! 1–0
Damit gelangte Jörg in die Spitzengruppe. Hochdramatisch die Situation vor der Schlussrunde: ganze sechs Spieler konnten noch den Titel erringen, zudem ging es um sehr viel Geld. Sollte man auf Gewinn spielen, koste es, was es wolle? Im Fall eines Schlussrunden-Sieges winken 10-, 20- oder gar 30-Tausend D-Mark. Bei einem Remis hätte man zumindest einige Tausend gesichert. Dann durfte man auf die Wertung hoffen. Aber eine Niederlage … das wäre verheerend. Jörg blieb auch unter diesen Umständen vor allem pragmatisch. Er hatte Weiß gegen den unberechenbaren Peter Enders, der vor Energie und Anspannung förmlich brannte. Da er auch auf seine gute Wertung vertraute bot Jörg bei beginnendem Mittelspiel seinem Gegner Remis an. War Jörg wirklich mit Remis zufrieden? Wollte er seinen emotional aufgewühlten Gegner unter zusätzlichen Druck setzen, ahnte er, dass dieser ablehnen und seine Stellung überziehen würde? Jedenfalls kam es zu einem legendären Dialog, der auch in Schach12/1998 eingegangen ist:
Hickl – Enders (nach 16.Tfe1)
„Hier bot ich Peter Remis an, doch ein erhobener Zeigefinger und ein zackiges `Nö, nö!` brachten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich stand nur leicht besser!“ (J.H.)
Wie aggressiv der Erfurter, der die erste Turnierhälfte dominiert und drei Schönheitspreise in Folge einheimste(!), gestimmt war, zeigte sich, als er seinen Kugelschreiber auf das Partieformular aufsetzte, um den Zug zu notieren: der Stift zerbarst förmlich unter dem Druck, der sich in Enders angesammelt hatte! Jörg ließ sich nicht anstecken, spielte eine astreine Positionspartie, indem er seinem Gegner immer mehr Raum im damenlosen Mittelspiel wegnahm: 16. ...Scd7 17. Tad1 Lxe3 18. Txe3 Kf8 19. b3 Te8 20. g4 Te7 21. Kh2 Tc8 22. Kg3 Sb6 23. h4 Tce8 24. Le4 Td7 25. Txd7 Sbxd7 26. Lf3 Sb6 27. Te1 Te7 28. g5 Se8 29. Se4 Sd5 30. c4 Sb6
31. Sc5! Nicht sogleich 31. Td1 Td7, durch Turmtausch könnte Schwarz sich entlasten. Jörg hat beide schwarze Springer auf miese Felder getrieben bzw. Enders hat diesen Trend nicht abhalten können. Jetzt steht Weiß positionell auf Gewinn.
31. ...Sc8 32. Td1 Scd6
33. f6! gxf6 34. gxf6 Tc7 35. Lg4! Lähmt alle schwarzen Figuren.
35. …h5 36. Lh3 Kg8 37. Kf3 Kh7 38. Sd7! c5 39. Sxe5 b5
40. Ld7! Elegant gespielt, wie die weißen Leichtfiguren mit Nadelstichen dieses Feld auskosten.
40. …bxc4 41. bxc4 Tb7 42. Kf4 Tb6 43. Lc6 Tb3 44. Sxf7! 1–0
Jörg hat viel getan mit Schach und fürs Schach, er ist seinem „Steckenpferd“ fast immer treu geblieben. Er hat immer wieder aufs Pferd Schach gesetzt, hin und wieder mag er das bereut haben. Andere haben umgesattelt. Auf Poker, auf dies oder das, auf was „Solides“ vielleicht sogar! Wurden Beamte, machten Karriere. Jörg blieb Schach treu, aber dabei auch innovativ und unternehmerisch. Der Traum mag vielleicht verblasst sein, aber er treibt ihn immer noch um: Leute zu erreichen, Schach populär zu machen, zu verbreiten. Ein Publikum zu finden, das Spiel und die Profis, die es betreiben, schätzt und angemessen würdigt. Das Ansehen von Schach in der Öffentlichkeit heben.
Klar, er ist auch ein bisschen schachmüde, gerade wenn man innehält, anlässlich eines Anlasses wie eines runden Geburtstages, rückt dies umso stärker in den Fokus. Aber er wird weitermachen, so wie bisher, man gewöhnt sich ja schnell an neue Umstände. Und die Zahl vorne – ist nur eine Zahl!
Wir freuen uns auf viele neue Schachreisen und neue Ideen, Schach zu vermitteln!
Alles Gute, Jörg, nimm`s gelassen! Wünsche weiterhin viel Motivation!
Frank Zeller
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 19671