19. Oktober 2013
Etwas ungewöhnlich war der Gast den Paul Werner Wagner, der Vorsitzende der Emanuel Lasker Gesellschaft (ELG), im Lasker-Schachtreff im traditionsreichen Berliner Café Sibylle gestern Abend empfing. Während sonst eher ältere Herren mit ihm auf der Bühne sitzen und aus ihrem reichen Schachleben plaudern, plazierte sich diesmal eine junggebliebene 47-Jährige neben ihm: Dijana Dengler. Neben den beiden Großmeistern Stefan Kindermann und Gerald Hertneck ist sie seit der Gründung 2006 Gesellschafter der Münchener Schachakademie.
Der Einladung nach Berlin folgte die gebürtige Bosnierin gern. Der Lasker-Schachtreff war ihre erste zu meisternde Aufgabe, ist sie doch nach den Worten Wagners "eine sehr interessante Persönlichkeit des Schachlebens". Und Aufgaben dieser Art hatte er ihr nach ihrem Beitritt zur ELG vor knapp einem Jahr mehrere in Aussicht gestellt.
Im Oktober 2012 durfte Wagner mit Dengler zum ersten Mal auf einer Bühne agieren. Im Kaiserbahnhof Potsdam wurde ein Blindsimultan mit Stefan Kindermann als Philidor nachgestellt. Dengler war als Philidors Muse Madame D kostümiert, während sich Wagner - ebenfalls historisch verkleidet - als Philidors Schachlehrer Monsieur Legall versuchte.
Das Schachspiel erlernte Dijana von ihrer Mutter, und zu viert - mit dem Vater und dem sechs Jahre älteren Bruder - saßen sie nun am Tisch und blitzten. Mutter/Tochter gegen Vater/Sohn.
Dabei war Dijana Schach eigentlich zuwider: "Ich komme aus einem Schachland, wollte aber kein Schach spielen." Sie konnte einfach nicht stillsitzen, hatte noch viele andere, teilweise deutlich aktivere Interessen: Klavierspielen (Musikschule parallel zur Grundschule war damals Pflicht), Theater, Sport. Hier besonders die Leichtathletik, wo sie im Laufen über 400 Meter einen Pokal gewann. Trotzdem konnte sie der Bruder zur Teilnahme an einem Schachturnier überreden, wo sie sich mit anderen Jungen messen sollte.
"Ich verlor wohl fast alle Partien" glaubt Dijana sich zu erinnern. Die Jungen frotzelten danach, das Mädchen nicht schlau genug für Schach wären. Doch statt die Figuren in die Ecke zu werfen, fühlte sie sich durch diese Aussage so motiviert, daß sie fleißig weiter Schach geübt hat. Ein Jahr später, im Alter von jetzt 11 oder 12 Jahren, gewann sie das Turnier!
Mit diesen ersten Erfolgen begann Dijana nun auch die positiven Auswirkungen des Schachspiels zu genießen, zum Beispiel die Möglichkeit der Teilnahme an anderen Turnieren, das Reisen und Kennenlernen anderer Jugendliche. "Okay das mache ich so nebenbei" sagte sie sich trotzdem und zehrte dabei von ihrem Talent. Ein Talent welches sie immerhin 1991 zur Bosnischen Meisterin und später zur vielfachen Nationalspielerin machte.
In Sarajevo, etwa 100 Kilometer nordwestlich ihrer Geburtsstadt Travnik, spielte Dijana in der ersten bosnischen Liga. Dort absolvierte sie auch ein Wirtschaftsstudium und bewarb sich kurz vor dem Ende des Studiums im Februar 1992 mit ihrer besten Freundin in Johannesburg (Südafrika). Da sie sich aber für die jugoslawische Schachmeisterschaft im März in Novi Sad (Serbien) qualifiziert hatte, entstand ein Interessenkonflikt. Sie entschied sich zwei Tage vor Turnierbeginn für Schach: "Wahrscheinlich ist es mein letztes Schachturnier und danach gehe ich nach Südafrika arbeiten" so Dijana.
Der persönliche Lebensplan wurde vier Tage später zunichte gemacht, als sie bereits mit ihrer Freundin - der späteren Großmeisterin Vesna Basagic (heutiger Name: Misanovic) - beim Turnier in Serbien spielte.
Zunichte gemacht wie auch der Lebensplan vieler anderer Menschen im zerfallenden Vielvölkerstaat Jugoslawien. Serbische Nationalisten hatten das nach Unabhängigkeit strebende Bosnien in einen kriegerischen Konflikt verwickelt, der - was damals noch keiner ahnen konnte - bis 1995 andauern sollte und etwa 100.000 Tote forderte. Der Kontakt zu ihrer daheimgebliebenen Familie riß ab und was noch viel schlimmer war: Ihre Mutter hat den Krieg nicht überlebt, sie wurde ermordet.
Der schwerverletzte Vater und ihr Bruder, die wie Dijana alles verloren hatten, gingen später nach Amerika.
Über 300 Kilometer von ihrer Heimat entfernt saß Dijana im März 1992 mit den anderen drei bosnischen Spielerinnen im serbischen Novi Sad fest. Das bosnische Sportministerium bat seine Landsleute das Turnier zu verlassen. Doch der Weg zurück war abgeschnitten. Die Grenze nach Bosnien war zu und eine Flucht ins Ausland kam wegen fehlender Kontakte nicht in Frage.
Über Beziehungen zu Boris Kutin, der damals Präsident des Slowenischen Schachbundes war, kam die Möglichkeit in Betracht, nach Ljubljana auszuweichen.
Doch auch der Weg in die slowenische Hauptstadt war alles andere als einfach. Züge fuhren nicht mehr und auch Flüge waren nicht möglich. Es blieb nur der Bus. Der war allerdings komplett ausgebucht. Die beiden weinenden jungen Damen konnte der Fahrer aber nicht zurücklassen. Zu zweit teilten sich Dijana und Vesna über 17 Stunden lang einen Platz.
In Ljubljana wohnten die Beiden zwei Wochen lang im Hotel und bemühten sich währenddessen mit Hilfe von Kutin um eine Rückkehr in die Heimat. Der hatte dann tatsächlich einen Flug nach Bosnien organisieren können, doch am Abreisetag brachte Kutin die schlechte Nachricht ins Hotel, das der Flughafen geschlossen worden wäre.
Über einen Onkel in München kam die nicht Deutsch sprechende Dijana und Vesna schließlich nach Deutschland. Einen Kontakt zu ihrer Familie in Bosnien gab es da immer noch nicht. Dafür erreichte sie im Mai 1992 ein Anruf des bosnischen Verbandes, der Mannschaften für die Schacholympiade in Manila (Philippinen) aufstellen wollte. Die bosnischen Spieler waren durch die unsichere Lage im Heimatland über die ganze Welt verstreut: Argentinien, Spanien, Italien, Deutschland... . Zentraler Treffpunkt für die Reise zum Pazifik war München.
Manila war für Dijana Gaso, wie sie damals noch hieß, die erste von inzwischen zehn Olympiateilnahmen. Die Nationalflagge für die Olympiade bastelten sie mit Hilfe eines in München lebenden bosnischen Künstlers.
Dijana spielte an Brett drei, die eineinhalb Jahre ältere Vesna an Brett eins. Es war der erste internationale Auftritt einer bosnisch-herzegowinischen Nationalmannschaft nach Ausbruch des Krieges. Dabei war es auch egal welchen ethnischen Gruppen die Spieler angehörten. Serben, Bosnier, Kroaten und Muslime spielten hier einträchtig mit- und nebeneinander.
In Deutschland entstanden die Kontakte zu anderen Menschen vor allen Dingen über das Schachspiel. Nach dem ersten Turnier in Dachau "kannte ich zehn Leute, nach dem zweiten zwanzig". Über einen Münchener Schachverein, in den sie eintrat, entstanden weitere Kontakte. Und dabei war München ja nicht ihr eigentliches Ziel. Die Sehnsucht nach der Heimat war ungebrochen. Zumindest durch ihr finanziell gut entlohntes Engagement in der Nationalmannschaft blieb die Verbindung zum Balkan bestehen.
Trotz der vielen Reisen in die ganze Welt lehnte sie das Angebot, die Mädchenmannschaft von Dubai zu trainieren, aber ab. Der Persische Golf auf der arabischen Halbinsel war ihr zu weit weg von ihrer Wahlheimat München.
War das familiäre Schicksal von Dijana schon erschütternd, kam 1993 auch noch eine eigene schwere Erkrankung hinzu, wodurch ihr Interesse am Schach zu versiegen drohte. Ihre Ärztin riet ihr aber, mit dem Schachspielen wieder anzufangen. "Ich war dankbar für jede Minute, die ich über Schachvarianten nachdenken konnte und nicht darüber, was passiert war. Schach war für mich Traumabewältigung."
Das Schachtraining betreffend meint Dijana: "Ich mag Schach zu spielen, aber nicht zu trainieren." In Sarajevo hatte sie einen Trainer, zu dessen Schützlingen der spätere Großmeister Predrag Nikolic gehörte. Weitere Trainer, wenn auch nicht dauerhaft, waren die Großmeister Vladimir Kovacevic und Suat Atalik. Zur Partievorbereitung nutzte sie damals Bücher und später die Schachsoftware von ChessBase.
Seit dem Engagement in der Münchner Schachakademie ist sie nun selbst als Trainerin aktiv. Allerdings nicht im Leistungssport, sondern im Kinder- und Jugendschach und als Leiterin von Schachseminaren für Manager. Ein Ergebnis dieses Trainings war das 2010 von Stefan Kindermann und Robert von Weizsäcker erschienene Buch "Der Königsplan - Strategien für Ihren Erfolg".
Schachseminare und -kurse gibt es natürlich nicht nur für diese beiden Klientel. Die Jüngsten sind zwar vier Jahre alt, aber es gab schon eine Teilnehmerin die war schon 92! Die hochbetagte ehemalige Schauspielerin konnte sich ihr ganzes Leben lang nicht mit Schach beschäftigen. Nun im hohen Alter wollte sie endlich damit anfangen. Seitdem trifft sie sich regelmäßig zweimal die Woche mit ihren Freundinnen zum Plausch. Und da "geht es nicht um Rheuma, sondern was man auf Lb5 spielen muß"!
Philidor im Kaiserbahnhof Potsdam
Der Königsplan - Video mit Stefan Kindermann
Münchener Schachakademie
Zum Abschluß der Fragestunde zeigte Dijana Dengler noch zwei Partien aus ihrer Karriere. Eine davon möchte ich hier wiedergeben, weil sie exemplarisch für die Trainingsarbeit von Dijana ist. Gespielt wurde die Partie bei der Schacholympiade 2008 in Dresden beim Wettkampf Bosnien-Herzegowina in der 8. Runde gegen Südafrika.
1.e4 c5 2.c3 Sf6 3.e5 Sd5 4.Sf3 Sc6 5.Lc4 Sb6 6.Lb3 e6 7.d4 cxd4 8.cxd4 d6 9.0-0 a6 10.Sc3 d5 11.Lc2 Sc4 12.b3 Sa3 13.Ld3 b5 14.Lg5 Da5 15.Tc1 Ld7
Mit dem Opfer 16.Sxd5! begann Dijana den unrochierten schwarzen König freizulegen. Für die Berechnung der sich ergebenden Varianten benötigte sie gerade einmal 20 Minuten. Obwohl ja immerhin ein kompletter Turm ins Geschäft gesteckt wird. 16. ... exd5 17.e6 fxe6 18.Txc6 Lxc6 19.Se5 g6 Soweit ist noch alles klar nachvollziehbar. Mit dem letzten Zug verhinderte Schwarz das kurzzügige Matt mit Dh5.
Nun scheint Weiß mehrere gute Fortsetzungen zu haben. Am einfachsten scheint Sxc6 zu sein, weil dadurch das Materialminus etwas reduziert wird. Negativer Nebeneffekt für Weiß: Die Klammer um den schwarzen König wird gelockert. Aber Weiß hat ja noch was Besseres: Df3 oder Dg4. Genau letzteren Zug hatte Dijana auch geplant, an dieser Stelle zu ziehen.
Allerdings war ihr Stuhl zu diesem Zeitpunkt verwaist. Sie hatte sich außerhalb des Spielareals etwas zu trinken besorgt und traf auf dem Rückweg ein Ehepaar aus München, das eines ihrer Kurse besucht hat. Es kam die übliche "Wie gehts"-Frage, worauf Dijana antwortete, sie sollen doch noch fünf Minuten warten, sie wäre gleich fertig.
Zurück am Brett schnappte sie nach der erstbesten Figur: 20.Sxc6? Der Zug war an der Stelle natürlich nicht geplant und die Verärgerung bei Dijana war so groß, daß sie selbst diese noch sehr gute Stellung zum Verlust verdarb. 20. ... Dc7 21.Se5 Lg7 22.Dg4 Dd6 23.Lf4 De7 24.Lxg6+ hxg6 25.Sxg6 Df7 26.Sxh8 Lxh8 27.Te1 Kd7 28.Le5 Sc2 29.Te2 Tg8 30.Dh3 Sxd4 31.Lxd4 Lxd4 32.Td2 Df4 33.Dd3 Le5 34.g3 Df6 35.a4 Tb8 36.Ta2 Ld4 37.axb5 Txb5 38.h4 Ta5 39.Dh7+ Kd6 40.Tc2 Dg7 41.Dd3 De5 42.Te2 Dg7 43.Kg2 e5 44.Dd2 Tb5 45.Da2 Db7 46.Da3+ Lc5 47.Dc1 d4+ 48.f3 Txb3 49.Dh6+ Kd5 50.Dh8 Ld6 51.Tc2 Tc3 52.Dg8+ Kc5 53.Tf2 Db3 54.Dc8+ Kb6 55.Dd8+ Lc7 56.Df6+ Ka7 57.h5 Tc2 58.h6 Txf2+ 59.Kxf2 Dc2+ 60.Kg1 d3 61.Df5 Dc1+ 62.Kg2 d2 63.h7 d1D 64.h8D Dg1+ 65.Kh3 Dh1+ 66.Kg4 Dxh8 67.De4 Dg7+ 0-1
Einmal mehr wird deutlich, daß man sich selbst in den klarsten Gewinnstellungen auf seine vier Buchstaben setzen sollte, um die Konzentration aufrecht zu erhalten.
Frank Hoppe
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 9187