10. Oktober 2014
Seit dem letzten Bericht wurden vier weitere Runden gespielt, damit insgesamt acht. Aber in der Tabelle änderte sich relativ wenig, da in Runde fünf bis acht niemand mehr als eine Partie gewinnen konnte und ebenfalls niemand mehr als einmal verlor. Der Stand im mittleren Turnierdrittel ist drei- oder viergeteilt: Kasimdzhanov, Karjakin, Radjabov 2.5/4 (+1=3), Andreikin, Caruana, Svidler 2/4 (+1=2-1), Gelfand, Mamedyarov, Tomashevsky 2/4 (=4), Dominguez, Grischuk, Nakamura 1.5/4 (=3-1) [innerhalb der Gruppen in alphabetischer Reihenfolge]. Aber natürlich zählen auch die ersten vier Runden, zusammen steht es so: Caruana und Gelfand 5/8, Kasimdzhanov, Karjakin, Radjabov, Svidler 4.5, Tomashevsky und Nakamura 4, Dominguez, Grischuk, Andreikin, Mamedyarov 3.
Das Feld ist also relativ sauber sortiert - niemand konnte sich oben absetzen (Caruana auch nicht), aber unten haben sich bereits einige abgesetzt, die vor dem Turnier Mitfavorit waren. Andreikin zählte eher nicht zu den Favoriten und hatte ein insgesamt mässiges Turnier aber immerhin ein Erfolgserlebnis. Die Spannung bewahre ich noch ein bisschen, obwohl das Titelbild (Quelle Turnierseite) bereits einen Hinweis liefert.
Vor dem Schnelldurchlauf durch die Runden fünf bis acht ein paar Bemerkungen zu den relativ vielen Remisen, das wurde hier und dort vom nicht zahlenden Publikum kritisiert. Wenn eine Partie schnell und eher unspektakulär remis endet, kann das drei Gründe haben: 1) Beide waren mit Remis zufrieden. 2) Ein Spieler wollte nur remis, und der Gegner fand keine geeigneten Mittel dagegen (mit ungeeigneten Mitteln kann man auch so eine Partie verlieren ...). 3) Beide spielten die besten Züge (oder was sie dafür hielten), und dadurch verflachte die Stellung schnell. Ein Urteil zu 1, 2 oder 3 ist und bleibt Spekulation. Eine vierte Möglichkeit ist noch: diverse Feinheiten und Fallstricke blieben hinter den Kulissen und wurden allenfalls in Pressekonferenzen diskutiert (aber ich hatte kaum Zeit, mir diese anzuschauen und anzuhören).
Wenn eine Partie nach langem Kampf remis endet, kann es zum Beispiel daran liegen, dass ein besseres Endspiel doch in der Remisbreite blieb bzw. dass der beteiligte Spieler den schmalen Grat zum Sieg nicht fand. Dafür gab es diverse Beispiele, aber ich kann nicht alle Partien besprechen.
Runde 5: Sechs Remisen, fünf davon kurz nach dem 30. Zug - davor ist es in diesem Turnier regelwidrig. Allerdings konnten die Protagonisten wohl keine der sechs Schlusspositionen sinnvoll weiterspielen. Anmerkungen nur zu zwei Partien: Mamedyarov-Grischuk war ein flott vorgetragener holländischer (1.d4 f5) taktischer Schlagabtausch. Grischuk hatte die Partie bereits weitestgehend auf seinem Monitor gesehen, Mamedyarov fand das nicht vorhandene Loch in der gegnerischen Vorbereitung nicht. Das gibt es also auch in eher ungewöhnlichen Eröffnungen. Nakamura-Dominguez: der Kubaner war vielleicht der Einzige, der verlieren wollte. Dann hat er es sich doch anders überlegt und hielt das Endspiel mit beiderseits zwei Türmen, ungleichfarbigen Läufern und zwei weissen Mehrbauern.
Runde 6: Remishasser kamen auf ihre Kosten oder wurden vielleicht enttäuscht: es gab drei Sieger und drei Verlierer. Caruana-Svidler 1-0 war am spektakulärsten und bot genug Stoff für einen ganzen Artikel, hier nur eine kurze Zusammenfassung: Es war ein sogenannter Neo-Grünfeld (1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.f3 d5), eine Variante die beide bereits mehrfach auf dem Brett hatten. Svidler hat dazu ca. 50 Minuten Videomaterial produziert - da erreicht Schwarz in allen Abspielen mindestens Ausgleich, heute nicht. Woran lag es? Vermutlich (noch) nicht an Svidlers Neuerung 10.-a6 sondern kurz danach an 12.-Se5 (12.-Sa5! Springer am Rand ist hier besser, da der Lg7 freie Sicht behält). Dann spielte Caruana zu stürmisch 18.e5, wodurch Svidler mit einem nahezu erzwungenen Figurenopfer zurück in die Partie kam, um später ab 27.-Th8? erneut die Kontrolle zu verlieren. Kasimdzhanov-Andreikin 1-0 und Grischuk-Radjabov 0-1 waren, kurz und knapp zusammengefasst, Katastrophen aus Sicht der Verlierer.
Runde 7: Andreikin-Caruana 1-0! Woran lag es? Eher nicht an Caruanas provokativer skandinavischer Eröffnung, sondern an zwei "furchtbaren" Damenzügen (O-Ton Caruana in der Pressekonferenz: "terrible move") - 19.-De6?! und (nachdem Andreikin zwischendurch auch nicht optimal spielte) 34.-Da7? . Caruana war in der erwähnten Pressekonferenz nicht allzu schlecht gelaunt - vielleicht hat er insgeheim damit gerechnet, dass seine Erfolgsserie irgendwann reissen würde. Dass es ausgerechnet gegen Andreikin passieren würde, war - obwohl dieser davor in Baku keine Bäume ausriss - vielleicht nicht sooo überraschend: der hat schon einige voll etablierte Weltklassespieler besiegt, im Kandidatenturnier Topalov und Aronian, davor mehrfach Kramnik. Ausserdem hatte und hat er einen perfekten Score gegen Skandinavisch - die andere Partie war gegen Li Haoyu, 2001 bei der U12-Weltmeisterschaft. Nakamura-Karjakin 0-1 - das weisse Eröffnungsexperiment 1.d4 Sf6 2.Sc3 d5 3.Lg5 Sbd7 4.Dd3!??! ging voll daneben. Auch zwei bis drei Remispartien waren durchaus gehaltvoll: Gelfand-Kasimdzhanov war so ein Turmendspiel, in dem der weisse Vorteil trotz sehr optimistischer Computerbewertungen objektiv nicht zum Sieg ausreichte (oder vielleicht doch und Gelfand nutzte seine Chance nicht? das mögen andere beurteilen). Radjabov-Dominguez begann auch mit 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.f3 d5 - dann ein anderes Abspiel und ein aus schwarzer Sicht besseres Ergebnis, am Ende ein ungewöhnliches Dauerschach. Svidler-Grischuk endete auch mit Dauerschach - da beide recht flott spielten, bin ich mir nicht sicher ob es ein Remis unter Freunden war. Sie sind gut befreundet, sie kämpften ihre Partien bei anderen Gelegenheiten doch aus, aber beide mussten noch ihre Niederlagen tags zuvor verdauen. Nebenwirkung war, dass Grischuk anschliessend sehr lange zu Gast in der Liveübertragung war und sich zu diversen Themen äusserte - das habe ich leider verpasst.
Runde 8: Heute wieder fünfmal remis, aber Absicht will ich den Spielern nicht unterstellen. Tomashevsky brachte ein taktisches Feuerwerk gegen Radjabov - mit am Ende einem Remisendspiel mit ungleichfarbigen Läufern. Gelfand wollte Nakamuras Holländisch positionell zerlegen was dann doch nicht funktionierte - alternativ konnte er eine Stellung mit aktiver Dame gegen drei unkoordinierte schwarze Leichtfiguren erreichen. Computer mögen da die weisse Stellung, am Brett ist es wohl "unklar". Kasimdzhanov-Caruana landete in einer quasi zum Remis ausanalysierten Grünfeld-Variante - das gibt es eben in dieser scharfen und hochtheoretischen Eröffnung. Der Remisschluss in Karjakin-Mamedyarov kam dagegen überraschend: Karjakin stand jedenfalls optisch klar besser und konnte seinen Gegner zumindest noch lange quälen, aber wiederholte in Zeitnot die Züge. Zwei Partien waren nach der ersten, und auch nach der zweiten Zeitkontrolle noch nicht beendet: Grischuk konnte seinen Endspielvorteil gegen Andreikin nicht verwerten, Svidler schaffte selbiges nach beiderseits ungenauem Spiel gegen Dominguez.
Ich wiederhole den Stand nach acht Runden: Caruana und Gelfand 5/8, Kasimdzhanov, Karjakin, Radjabov, Svidler 4.5, Tomashevsky und Nakamura 4, Dominguez, Grischuk, Andreikin, Mamedyarov 3. Caruana und Gelfand liegen nach wie vor vorne, aber ein halber Punkt ist noch kein komfortables Polster. Von den Aussenseitern mischen Kasimdzhanov und Tomashevsky ordentlich mit, und Andreikin hatte immerhin sein Erfolgserlebnis gegen Caruana. Ob Radjabov Aussenseiter oder Mit-Favorit ist, hängt davon ab, ob man ihn nach seiner momentanen Elo einstuft oder sich an seine besten Tage erinnert. Dominguez, Grischuk und Mamedyarov bereuen vielleicht, dass es in dieser GP-Serie kein Streichresultat gibt. In der Liveübertragung sagte Emil Sutovsky, dass er (in seiner Rolle als ACP-Präsident) vorschlug, dieses abzuschaffen - im Auftrag aller Spieler.
Wie geht es weiter? Caruana hat im Restprogramm zweimal Weiss und spielt noch gegen Tomashevsky sowie die formschwachen Grischuk und Dominguez. Gelfand hat zweimal Schwarz und muss, ausser gegen Mamedyarov, noch gegen die direkten Verfolger Radjabov und Svidler antreten. Dann gibt es u.a. noch die Verfolgerduelle Radjabov-Karjakin und Karjakin-Svidler.
In den beiden vorangegangenen GP-Serien landeten viermal drei Spieler geteilt auf dem ersten Platz, siebenmal gab es einen alleinigen Sieger. Und nur einmal teilten sich zwei Spieler Platz eins - im letzten GP-Turnier 2013 in Paris. Die beiden Glücklichen hiessen ... Caruana und Gelfand. Allerdings war Caruana damals ein unglücklicher geteilter Sieger: nur ein alleiniger Sieg reichte damals für die Qualifikation zum Kandidatenturnier. So landete er in der Gesamtwertung hinter Topalov und Mamedyarov - beide profitierten davon, dass es 2012/13 noch ein Streichresultat gab.
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 18979
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