24. Oktober 2014
Prognosen sind immer so eine Sache, aber mitunter stimmen sie auch - jedenfalls zu einem gewissen Zeitpunkt, also schnell einen Artikel schreiben, der ohnehin zum ersten Ruhetag in Taschkent vorgesehen war. So steht es nach vier Runden: Vachier-Lagrave 3/4, Nakamura, Karjakin, Andreikin 2.5, Giri, Jobava, Mamedyarov, Radjabov 2, Gelfand, Caruana, Jakovenko 1.5, Kasimdzhanov 1. Ich hatte vor der GP-Serie auf Vachier-Lagrave gesetzt ... . Was das für eine andere Prognose anderswo - nach dem ersten von vier GP-Turnieren in Baku ist bereits eine Vorentscheidung in der gesamten Serie gefallen - bedeuten könnte, dazu mehr gegen Ende dieses Beitrags.
Analog zu "Caruaaana!" oder mitunter auch "Nakamuuuraaa!" könnte man nun "Vaaachieeer-Lagrave!" schreiben - aber nur, wenn man die französische Sprache allenfalls aus dem deutschen Schulunterricht (jedenfalls der, den der Autor in den 1980er Jahren hatte) kennt, aber nicht so wie sie in Frankreich gesprochen wird: "Va (te faire) chier" bedeutet, vornehm übersetzt, "verschwinde!". Einige andere Teilnehmer in Taschkent hätten vielleicht nichts dagegen, wenn MVL verschwindet. Allerdings enthält es auch eine Anspielung auf eine Tätigkeit, die Männer und Frauen an einem vorgesehenen Ort sitzend ausüben - während die weniger vornehme Übersetzung ins Deutsche oder auch Englische sich auf ein Grundbedürfnis bezieht, dass Männer auch stehend und eventuell irgendwo draussen erledigen können ... . Wie verliefen die ersten vier Runden in Taschkent?
Caruana - Vachier-Lagrave 0-1 war ein hochtheoretischer Najdorf-Sizilianer. Trotz heterogener Rochaden ergab sich kein gegenseitiger Königsangriff, sondern ein Endspiel, in dem beide Seiten Freibauern vor ihrem eigenen König hatten. Die schwarzen Freibauern konnten sich durchsetzen. Das ist natürlich eine stark verkürzte Zusammenfassung der Partie, ausführliche Analysen findet der Leser anderswo im Internet.
Was war passiert? Vachier-Lagrave hat sicher gut gespielt, und bei Caruana ist weiterhin Sand im zuvor perfekt funktionierenden Turbo. Ausserdem hat sich für ihn in den letzten Monaten einiges geändert, aber er hat vielleicht weiterhin oder wiederum eine Najdorf-Allergie: 2012/2013 erzielte er gegen diese Variante mit Weiss 2,5 Punkte aus 10 Partien (und auch beim einzigen Sieg gegen Naiditsch in Baden-Baden stand er zwischendurch schlecht bis verloren).
Es gab noch zwei Sieger: Nakamura-Jobava 1-0: Jobava opferte (vielleicht aus der Not geboren in ansonsten passiver Stellung) zunächst eine Figur, dann noch eine Qualität. Die Stellung war danach noch etwas unklar im Sinne von Schummelchancen, aber dann tauschte er in Zeitnot-Panik die Damen und gab einige Züge später auf - mit zu diesem Zeitpunkt noch einer Sekunde für sieben Züge hätte er ohnehin (auch) auf Zeit verloren. Mamedyarov-Andreikin 0-1: der Weisspieler schaffte es, ein gewonnenes Turmendspiel mit Mehrbauer zu verlieren. Die Remisen zwischen Giri und Gelfand sowie Radjabov und Karjakin hatten auch interessante Momente, aber ich kann nicht auf alle Partien eingehen.
Zu dieser Runde zunächst ein Foto:
Jobava fragte Gelfand vielleicht "soll ich oder soll ich nicht?" - seine Spezialvariante 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Le2, eine Art Philidor im Anzug, spielen? Jobava-Caruana 1/2 begann dann mit dieser Eröffnung, die aus weisser Sicht dann nicht nach Wunsch verlief: schon nach 13 Zügen musste er die Dame gegen Turm und Leichtfigur tauschen, meistens kein gutes Geschäft. Dann hielt er den Laden irgendwie zusammen, mindestens einmal mit gegnerischer Hilfe. Dagegen: Vachier-Lagrave - Kasimdzhanov 1-0: In einem abgelehnten Berliner (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.d3) gewann Weiss nach 20 Zügen einen Bauern - Schwarz hatte zwar die Möglichkeit, den Bauern sofort zurück zu gewinnen, aber dann wäre sein Randspringer auf a5 für lange Zeit nur Zuschauer - und nach 36 Zügen das Endspiel mit Mehrbauer. Die vier anderen Remispartien ignoriere ich mal.
Diese Runde hatte wieder mehr Sieger und Verlierer. Karjakin-Jakovenko 1-0 stand ebenfalls unter dem Motto "Bauern gewinnen (für den Schwarz zunächst mit Läuferpaar gute Kompensation hatte), dann das Endspiel gewinnen". Mamedyarov-Gelfand 1-0: Weiss versuchte dieselbe Variante (Königsindisch/Benoni mit e2-e3-e4), mit der er Gelfand bereits in Baku besiegen konnte. Diesmal hielt Schwarz lange mit. Letzter weisser Versuch war ein Qualitätsopfer im Endspiel - erfolgreich, da Gelfand nicht die zum Remis ausreichende Antwort fand. Kurios war lange davor das weisse Manöver 16.Tae1 und 17.Ta1, das Schwarz mit Dd8-b6-d8 beantwortete. Kasimdzhanov-Jobava 0-1: Weiss opferte flott einen Bauern (10.d5!?), Schwarz verlor zwar das Rochaderecht aber hatte dennoch keine Probleme. Der Bauern-Rückgewinn 24.Lxa7??! war als Remisabwicklung vorgesehen, scheiterte aber an einigen taktischen Motiven. Zu den Remispartien: Radjabov-MVL war wieder ein scharfer hochtheoretischer Najdorf-Sizilianer, der in ein unklares Endspiel mündete - wohl etwas besser für Weiss, aber Schwarz hielt stand. Nakamura erreichte gegen Giri positionell einiges, aber am Ende nicht genug. Caruana erreichte gegen Andreikins Berliner Mauer nichts.
Wie Jobava tags darauf in der Pressekonferenz erzählte, hatte seine Partie gegen Kasimdzhanov eine Vor- und Nachgeschichte - Anlass für mich um Spielerfrauen zu zeigen (links Frau Kasimdzhanov, rechts Frau Karjakin), die farblich mit den Bildern an der Wand und auch mit den Schachbrettern konkurrierten:
Jobava hatte seinen Geldbeutel mit 500 Euro Bargeld verloren und daher bei der Partie gegen Kasimdzhanov schlechte Laune. Abends klopfte Rustam Kasimdzhanov an Jobavas Hotelzimmer-Tür, Jobava öffnete und dachte "was will er von mir, sich nochmal über die Partie unterhalten?". Kasimdzhanov fragte "hast Du was verloren, da wurde was gefunden!". Jobava: "Du träumst wohl!". Kasimdzhanov: "Nein, kein Traum sondern meine Frau!". Restaurantgäste hatten einen Geldbeutel gefunden und an Frau Kasimdzhanov abgegeben, sie suchte und fand den rechtmässigen Eigentümer. Dickes Lob von Jobava für die ehrlichen Usbeken.
Sechsmal Remis, durchaus unterschiedlicher Art. Bei Gelfand-Jakovenko, Andreikin-Kasimdzhanov und Giri-Caruana passierte nicht allzu viel. Jobava-Radjabov war dagegen ein kleines Spektakel in einer Grünfeld-Nebenvariante mit schwarzem Bauernopfer, das irgendwann zu einem Remisendspiel verflachte. Mamedyarov-Nakamura war, so kennen wir diese Kampfhähne, ein grosses Spektakel, das ich allerdings nicht im Detail beschreiben kann. MVL-Karjakin stand unter dem Motto "Bauern gewinnen (bzw. den opferte Karjakin ausgangs der Eröffnung) und dann das Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern - dazu anfangs noch alle Schwerfiguren, später nur noch die Damen - nicht gewinnen". Vermutlich war es objektiv nicht zu gewinnen.
Bevor ich zusammenfasse, noch ein optischer Eindruck vom Turniersaal:
Die Spieler können mit den Bildern farblich nicht konkurrieren, auch Nakamura verzichtete diesmal (bisher?) auf sein Red Bull T-Shirt.
Eine GP-Livewertung ist eigentlich Unsinn, das kann sich nach jeder Runde ändern, zumal wenn das Teilnehmerfeld dicht beisammen liegt. Ich hatte die Spieler, die in Baku Platz 3 teilten, als "erste Verfolger" von Caruana und Gelfand bezeichnet aber bewusst Gänsefüsschen verwendet. Grischuk, Svidler und Tomashevsky fehlen in Taschkent, Nakamura und Karjakin sind im Turnier dabei. Und so steht es momentan hypothetisch: Karjakin und Nakamura 195.3 (82+113.3), Caruana und Gelfand 185 (155+30), dahinter bereits Vachier-Lagrave 170 aus einem Turnier. Es bleibt also, oder es ist - anders als man vor vier Tagen vielleicht gedacht hat - spannend!
Schon am Sonntag (Samstag ist Ruhetag) könnten Caruana und Gelfand verlorenes Terrain zurückerobern. Caruana hat Weiss gegen Mamedyarov, der ist - im positiven wie aus seiner Sicht negativem Sinn - immer für eine Überraschung gut. Gelfand hat Schwarz gegen Nakamura, mit dieser Farbe hat er gegen diesen Gegner (einschliesslich Blitz- und Schnellschach) +9=6-1, auch wenn die neuesten Ergebnisse für Nakamura besser ausschauen. Ansonsten werde ich aber erst im nächsten Zwischenbericht das dann überschaubare Restprogramm besprechen.
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 19018
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