27. Februar 2015
In den letzten drei Runden tat sich in der Tabelle wenig: Tomashevsky legte noch einen drauf, Vachier-Lagrave betrieb etwas Schadensbegrenzung - auf Kosten von Kasimdzhanov und Jobava. Die sechzehn anderen Partien endeten Remis, auf unterschiedliche Weise: manchmal hatten beide offenbar genug vom Turnier, manchmal war es gerecht, ausgekämpft und teilweise spektakulär, manchmal verpasste (mindestens) ein Spieler den Sieg. Das werde ich durchaus besprechen, aber Schwerpunkt dieses Berichts werden auch einige Bemerkungen zum Turnier insgesamt. Zunächst natürlich der Endstand: Tomashevsky 8/11, Jakovenko 6.5, Radjabov 6, Dominguez, Giri, Kasimdzhanov, Mamedyarov 5.5, Vachier-Lagrave, Grischuk, Jobava 5, Svidler 4.5, Andreikin 4. Das ist - milde ausgedrückt - nicht sauber nach Elo sortiert. Zu ihrem Glück spielten Caruana, Nakamura und Karjakin nicht in Tiflis sondern in Zürich. Da war die absolute Elite unter sich, und damit verpassten sie den Aufstand der Elo-Zwerge - sofern man mit Elo über 2700 ein Zwerg ist.
Tomashevsky-Kasimdzhanov 1-0 Kasimdzhanov spielte Königsindisch, Tomashevsky reagierte zum dritten Mal im Turnier mit dem "prinzipiellen" 6.h3. 'Prinzipiell' stammt von ihm selbst: es entstehen spannende Stellungen abseits der weit ausanalysierten Hauptvarianten. Er bleibt seinen Varianten treu und hat keine Angst vor eventueller gegnerischer Vorbereitung. Eines machte er heute anders als zuvor gegen Giri und Grischuk: er rochierte lang - gegen Grischuk hatte er gar nicht rochiert, gegen Giri künstlich-kurz mit 16.Kf1 und 17.Kg2. Kasimdzhanovs Aufgabe im 30. Zug kam auf den ersten Blick überraschend früh. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass (nach Abtausch des schwarzen Aktivposten Sd4) die übrigen weissen Figuren (Turmpaar und Springer) viel besser stehen als die schwarzen die sich gegenseitig decken müssen - Weiss dominiert komplett.
Jobava - Vachier-Lagrave 0-1 Jobava spielte einen nicht allzu ambitionierten, aber jedenfalls anti-theoretischen (Neuland nach 5 Zügen!) Anti-Sizilianer. Schwarz hatte Raumvorteil aber wohl nicht mehr als das, nach der Zeitkontrolle bot MVL im 41. Zug remis - und Jobava lehnte in für ihn schlechterer Stellung ab! War das ein psychologischer Trick, um den Remishasser Jobava aus der Reserve zu locken? Er öffnete den Königsflügel, Schwarz gab einen Bauern den er dann mit Zinsen zurück eroberte. Nach 75 Zügen gab Jobava auf, keinesfalls zu früh denn seine Stellung war bereits einige Zeit hoffnungslos verloren.
Die vier Remispartien hatten alle mehr oder weniger interessante Momente, aber nur eine bekommt ein paar Zeilen nebst Fotos: Mamedyarov-Giri 1/2
Giri lächelt freundlich, Mamedyarov vielleicht teuflisch - denn er hatte eine Überraschung parat: 1.e4!? Das verdient eigentlich kein Kommentarzeichen - so spielen sowohl GMs als auch Amateure, z.B. auch Ihr Reporter. Aber Mamedyarov spielt so nur sehr selten. 1.-c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sc6 5.Sc3 Dc7 6.Le3 a6 7.Df3!? war mal ein ziemlich unbekannter Zug, das hat sich in letzter Zeit geändert 7.-Se5 8.Dg3 h5!? Giri-style 9.Sf5!!?? Neuerung, und was für eine!
Nach fünf Minuten entkorkte Giri 9.-f6!!? - wie bitte?? Aber das ist offenbar die beste Antwort. Weiter ging es mit beiderseitigen Opfern und Gegenopfern und am Ende Dauerschach.
Sechsmal Remis, vom Verlauf der Partien her kam das teilweise unerwartet. Beginnen wir mit den korrekten Remisen: Radjabov-Giri - Schwarz spielte Russisch, offenbar wollte er heute keine sizilianischen Abenteuer wie gestern gegen Mamedyarov und vor kurzem in Wijk aan Zee gegen dessen Landsmann, einen gewissen Teimour Radjabov. 53 Züge wurden gespielt, ausgekämpft war es also aber wohl durchgehend remislich - zumal Radjabov nicht das modische 5.Sc3!? spielte sondern die alte Hauptvariante 5.d4. Svidler-Grischuk war nur vor der Partie bunt:
Hatten die beiden Freunde ihre Garderobe vorab besprochen? Danach war (8.)h3 gegen Grünfeld-Indisch wohl eher nicht prinzipiell - inzwischen habe ich es in Svidlers Videos gefunden, unter "Nebenvarianten Teil 5" bezeichnet er es als völlig harmlos. Das war vor gut einem Jahr - falls er seine Meinung zwischenzeitlich geändert hat, konnte er es am Brett nicht belegen. Immerhin am Ende ein (pseudo-)hübsches Figurenopfer 17.-Lxh3 nebst Dauerschach. Bei Vachier-Lagrave - Jakovenko hatte Weiss vielleicht leichte Vorteile in einem Anti-Berliner (4.d3) aber nichts konkretes. Nach 30 Zügen war die Stellung soweit verflacht, dass selbst Jobava nicht mehr auf Verlust spielen könnte. Das tat er stattdessen, am Ende erfolglos, gegen Kasimdzhanov. Der Lokalmatador wählte eine, naja, provokative Variante im slawischen Damengambit. Nach 14 Zügen hatte Weiss ein Bauernduo f5-e6. Nach 21 Zügen war der Freibauer nicht mehr, bzw. nur noch vom Lh3 gedeckt da Jobava 20.-Sxe6 gespielt hatte. Die Figur bekam er forciert zurück, aber nun stand sein König viel zu luftig. Im 29. Zug hatte Kasim in einer ungewöhnlichen Stellung die Wahl zwischen zwei ungewöhnlichen Springerzügen: 29.Se7 war aus schwarzer Sicht aufgabereif, nach 29.Sh6?? stand Schwarz plötzlich besser bis gewonnen ... und bot wenig später remis, was Weiss dankbar akzeptierte. So wollte Jobava nach eigener Aussage in der Pressekonferenz nicht gewinnen und am Ende dieser erwähnte er "die Geschichte in Taschkent". Ich weiss was gemeint ist, da ich es damals erwähnt hatte. Der Leser braucht entweder (m)ein gutes Gedächtnis, oder er muss auf diesen Link klicken. Dominguez-Mamedyarov war ein Najdorf-Sizilianer: Weiss stand zwischenzeitlich klar besser, Schwarz überlebte irgendwie. Dann war da noch die Partie zwischen den Freunden Andreikin und Tomashevsky:
Zunächst blicke ich zurück auf 2013: Da trafen sie im Weltcup-Halbfinale aufeinander, "natürlich" (wenn man das Turnier insgesamt betrachtet) gewann Andreikin im Schnellschach-Tiebreak. Tomashevsky hatte zuvor (ohne Tiebreaks) So, Aronian(!) und Kamsky (damals noch Weltklasse) eliminiert und dazwischen einen sehr dramatischen Tiebreak gegen Morozevich gewonnen. Insofern ist sein Triumph in Tiflis nicht völlig unerwartet. Damals qualifizierte sich Andreikin als Finalist für das Kandidatenturnier, Tomashevsky als Halbfinalist immerhin (wie auch Andreikin) für diese GP-Serie.
Hier und heute traf der Tabellenletzte und Taschkent-Sieger Andreikin auf den Tabellenführer und zu diesem Zeitpunkt sehr wahrscheinlichen Tiflis-Sieger Tomashevsky. Tomashevsky brauchte noch ein Remis, und das bekam er am Ende - aber keinesfalls gratis. Hinterher meinte er, dass er die scharfe Noteboom-Variante im Damengambit nicht erwartet und nicht, jedenfalls nicht speziell für diese Partie vorbereitet hatte. Moment mal, Schwarz leitet das doch ein, und Tomashevsky hatte Schwarz!? Wollte er, wenn möglich, den Rekord von Topalov und Dominguez (jeweils einmal 8/11 in der vorigen GP-Serie) verbessern? Das war zumindest riskant - Andreikin verpasste mehrere Gewinnzüge und gab am Ende Dauerschach. Die anschliessende Pressekonferenz dauerte 30 Minuten aber die Zeit hatte ich nicht bzw. nahm ich mir nicht.
Die fasse ich ziemlich kurz zusammen, alles Remis. Mamedyarov und Svidler spielten satte acht Züge und wiederholten dann dreimal die Stellung - so, das Turnier ist abgehakt (sicher schon vor dieser Partie). Jakovenko riskierte gegen Kasimdzhanov eher wenig, nach 31 Zügen war das Remis unterschriftsreif und auch ohne Zugwiederholung ab dem 30. Zug regelgerecht. Grischuk-MVL: auch ein korrektes Remis. Tomashevsky-Radjabov: ein Königsinder in dem der Turniersieger (das stand bereits vor der Runde definitiv fest) "überraschend" 6.h3 spielte und auch heute lang rochierte. Aber heute erreichte er keinen Vorteil, die Partie endete mit einer nicht unbedingt forcierten aber durchaus plausiblen Zugwiederholung. Jobava-Andreikin begann vielversprechend: im verzögert angenommenen Damengambit verteidigte Schwarz den Bauern auf c4 auf Kosten einer Qualität, wer steht nun besser bzw. wer spielte im weiteren Partiverlauf auf Gewinn? Ich weiss es nicht, jedenfalls verflachte es zu einem Remis-Turmendspiel. Giri versuchte am längsten, eine etwas bessere Stellung gegen Dominguez zu gewinnen, am Ende ohne Erfolg.
Hinterher dieser Twitter-Dialog zwischen zwei Spielern, die mit ihrem Ergebnis sicher nicht zufrieden sind. Giri: "Failed to win yet another promising position. That's what this GP has all been about for me.. Time to recharge and comeback!" [Wieder konnte ich eine vorteilhafte Stellung nicht gewinnen. So war es oft in diesem GP. Zeit, die Batterien wieder aufzuladen und dann ein Comeback!]. Vachier-Lagrave: "@anishgiri you got a buddy there" [Du hast einen Kumpel]. Ob Giris Gejammer heute berechtigt war, kann ich auf die Schnelle (und bevor sich anderswo kompetentere Leute äussern) nicht einschätzen, aber auf das gesamte Turnier bezogen hat es zumindest einen wahren Kern. Bevor ich das Turnier ansonsten zusammenfasse, zunächst die Abschlusstabelle:
Platz | Spieler | Land | Elo | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | Punkte | TPR |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1. | Evgeny Tomashevsky | 2716 | * | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | ½ | ½ | 8 | 2921 | |
2. | Dmitry Jakovenko | 2733 | ½ | * | ½ | ½ | 1 | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | ½ | ½ | 6½ | 2809 | |
3. | Teimour Radjabov | 2731 | ½ | ½ | * | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | ½ | ½ | ½ | 6 | 2780 | |
4. | Leinier Dominguez Perez | 2726 | ½ | ½ | ½ | * | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 0 | ½ | 1 | 5½ | 2745 | |
5. | Anish Giri | 2797 | ½ | 0 | ½ | ½ | * | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 1 | ½ | 5½ | 2738 | |
6. | Rustam Kasimdzhanov | 2705 | 0 | ½ | ½ | ½ | ½ | * | 1 | ½ | 0 | ½ | 1 | ½ | 5½ | 2747 | |
7. | Shakhriyar Mamedyarov | 2759 | 0 | ½ | ½ | ½ | ½ | 0 | * | 1 | 1 | 0 | ½ | 1 | 5½ | 2742 | |
8. | Maxime Vachier-Lagrave | 2775 | 0 | ½ | ½ | ½ | ½ | ½ | 0 | * | ½ | 1 | ½ | ½ | 5 | 2704 | |
9. | Alexander Grischuk | 2810 | 0 | ½ | 0 | ½ | ½ | 1 | 0 | ½ | * | 1 | ½ | ½ | 5 | 2701 | |
10. | Baadur Jobava | 2696 | 0 | 0 | ½ | 1 | ½ | ½ | 1 | 0 | 0 | * | 1 | ½ | 5 | 2712 | |
11. | Peter Svidler | 2739 | ½ | ½ | ½ | ½ | 0 | 0 | ½ | ½ | ½ | 0 | * | 1 | 4½ | 2679 | |
12. | Dmitry Andreikin | 2737 | ½ | ½ | ½ | 0 | ½ | ½ | 0 | ½ | ½ | ½ | 0 | * | 4 | 2642 |
In der Tabelle fallen ein paar Dinge auf: Die bei weitem grösste Lücke klafft zwischen dem ersten und zweiten Platz, dagegen ist die Lücke zwischen dem vierten und zehnten Platz nur ein halber Punkt. Drei Spieler blieben ungeschlagen, die landeten auf den Plätzen eins bis drei - nicht verlieren ist durchaus wichtig, das schaffte keiner der Favoriten. Aber Tomashevsky hat auch fünfmal gewonnen und damit öfter als Giri, Vachier-Lagrave und Grischuk zusammen (eins plus eins plus zwei ist vier). Mamedyarov, den man auch noch zum Favoritenkreis zählen konnte, hat immerhin dreimal gewonnen - allerdings auch, wie Grischuk, dreimal verloren.
Warum hat Tomashevsky gewonnen? Das muss ich doch nicht näher untersuchen - eine Rolle spielte vielleicht auch, dass er unbeschwert aufspielen konnte. Von seinen Siegen war nur der gegen Mamedyarov ein bisschen glücklich, und in ernsthafter Verlustgefahr schwebte er vielleicht nur gegen Andreikin (aber 0.5/2 statt 1.5/2 aus diesen Partien hätte immer noch für den Turniersieg gereicht). Die Favoriten Grischuk, Giri und MVL spürten dagegen vielleicht den Druck, dass sie in der GP-Serie jedenfalls vom Resultat her gut spielen "mussten". Giri und Vachier-Lagrave haben sich (s.o.) auf Twitter geäussert; Grischuk sagte während dem Turnier, dass er grottenschlecht spielte und "links und rechts patzte". Noch zwei Spieler will ich etwas belichten: Für Jobava war es am Ende ein normales Ergebnis im Rahmen der Eloerwartung, aber natürlich ein Turnier mit Höhen und Tiefen - bzw. turnierchronologisch Tiefen, Höhen und dann vom Ergebnis her Flachland. Andreikin konnte sein Ergebnis aus Taschkent nicht annähernd wiederholen/bestätigen, warum eigentlich? Es mag paradox klingen, aber - abgesehen vom Ergebnis - spielte er meines Erachtens ähnlich wie in Taschkent. Nur konnte er diesmal zwei schlechtere Endspiele nicht halten und die Chance die er (ausgerechnet) gegen Tomashevsky hatte nicht nutzen.
Den aktuellen Stand in der GP-Wertung findet man u.a. auf Wikipedia. Ich kann mir ein bisschen Vorschau auf meine Vorschau zum letzten Turnier in Khanty-Mansiysk leisten, denn das ist erst ab Mitte Mai. Das Rennen um die beiden Quali-Plätze für das Kandidatenturnier spielt vor allem zwischen Tomashevsky, Caruana und Nakamura. Mamedyarov ist momentan Zweiter der Gesamtwertung, aber Caruana muss in Sibirien nur "mindestens Letzter" werden (d.h. antreten) um ihn zu überholen. Andere - Jakovenko, Gelfand, Karjakin usw. - brauchen neben einem sehr guten eigenen Ergebnis auch ein relativ schlechtes Ergebnis für zwei der drei eingangs erwähnten Spieler. Tomashevsky muss sich überlegen, ob er sich wirklich für das Kandidatenturnier qualifizieren will. Andererseits: seine Chancen sind womöglich besser, wenn ihm das relativ egal ist - denn dann kann er auch nächstes Mal unbeschwert aufspielen.
Ich schliesse ab mit einem Foto der Abschlussfeier - noch hat die Turnierseite keine komplette "Photo Gallery". Darauf mehr als 12 Personen, die anderen (vor allem georgischen) Namen stehen alle hier.
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 19488
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