10. Mai 2015
Alles oder nichts für die 12 Teilnehmer, bzw. die drei bis sechs die noch gute bis gewisse bis eher theoretische Chancen auf einen der beiden ersten Plätze in der GP-Gesamtwertung haben? Man kann natürlich diskutieren, ob ein gutes bis sehr gutes Ergebnis im letzten der vier Turniere (gar) nichts ist, wenn man sich damit nicht für das Kandidatenturnier qualifiziert - aber das ist schliesslich Sinn der gesamten Serie, die nun die Zielgerade erreicht hat.
Die Turnierseite für Khanty-Mansiysk gibt es bereits, aber naturgemäss steht da noch recht wenig, es gibt auch noch keine "Photo Gallery". Daher bediene ich mich bei den drei bereits abgeschlossenen Turnieren, und zeige zunächst den überlegenen Sieger in Tiflis und Führenden der Gesamtwertung. Generell achte ich in dieser Vorschau vor allem auf die momentane Gesamtwertung, und werde andeuten wie das letzte Turnier den Endstand dieser beeinflussen kann oder könnte.
Bevor ich dazu komme, ein musikalischer Exkurs und für mich Erinnerungen an meine eigene Jugend. Manchmal wird vorgeschlagen, dass Schachspieler - wie Boxer - zu lauter Musik die Bühne betreten könnten. Zu diesem Turnier hat die schwedische Band Europe bereits 1986 das passende Lied komponiert: It's the final countdown. Unter anderem singen sie "We are heading for Venus" - ganz so weit ist die Anreise für die Teilnehmer nicht! Sie spielen im sibirischen Khanty-Mansiysk, das auch mal wieder ein hochkarätiges Turnier ausrichtet, auch wenn Sotschi inzwischen DIE russische Schachmetropole ist. 1986 ist, wie in jedem anderen Jahr, einiges passiert: unter anderem wurde Garry Kasparov Weltmeister, und Thomas Richter bestand sein Abitur.
Wenn die Teilnehmer auf die Scorpions hören ("Follow the Moskwa down to Gorky Park. Listen to the wind of changes."), dann liegen sie daneben - Moskau war nur anfangs mal als Austragungsort dieses Turniers vorgesehen. Ich will nicht diskutieren, was vom Optimismus dieser Glasnost-Perestroika-Hymne (1989 vor dem Mauerfall komponiert, 1990 nach dem Mauerfall veröffentlicht) geblieben ist - schliesslich trenne ich Schach und Politik so weit wie irgend möglich voneinander. Aber abschliessend werde ich etwas thematisieren, ob und in wieweit ein frischer Wind durch die Schachwelt weht.
Ich sollte wohl alle Teilnehmer in Khanty-Mansiysk nennen, geordnet nach Stand in der GP-Gesamtwertung: Evgeny Tomashevsky, Fabiano Caruana, Hikaru Nakamura, Dmitry Jakovenko und Boris Gelfand, Sergey Karjakin, Alexander Grischuk, Baadur Jobava und Maxime Vachier-Lagrave und Anish Giri, Peter Svidler, Leinier Dominguez. Gespielt wird vom 14.-26.5. jeweils um 15:00 Ortszeit (12:00 in Mitteleuropa), mit Ruhetagen (und jeweils etwa zu diesem Zeitpunkt Zwischenberichten) am 18. und 22.5. . Vachier-Lagrave und Giri waren anfangs meine Tips für vordere Plätze in der Gesamtwertung, Tomashevsky hatten weder ich noch (soweit mir bekannt) andere auf der Rechnung - Tatsache ist, dass im Schach Entscheidungen am Brett fallen und nicht nach Elo oder persönlichen Sympathien. Jobava sagte dem Autor dieses Artikels in Wijk aan Zee "Chess is like boxing, you know" - er kann sich nicht mehr für das Kandidatenturnier qualifizieren, aber durchaus Spielverderber werden für andere.
Nun gehe ich auf einige individuell ein - nicht alle, nur diejenigen mit Chancen auf das Kandidatenturnier. Tomashevsky (derzeit 252 GP-Punkte) spielte nach seinem grossen Auftritt in Tiflis nur noch bei der Mannschafts-WM. Da hatte er von den Zahlen her und als einziger Russe mit 5,5/8 ein ordentliches Ergebnis, aber dennoch ein Turnier mit Höhen und Tiefen: anfangs eine Niederlage gegen Eljanov, später konnte er zwei gewonnene Endspiele nicht gewinnen, was Russland jeweils Mannschaftspunkte kostete. In Khanty-Mansiysk muss er nicht unbedingt gewinnen, braucht aber wohl (abhängig von Ergebnissen anderer Spieler) mindestens einen Platz im oberen Tabellendrittel.
Caruana (230 Punkte) spielte dieses Jahr mit Wijk aan Zee, Baden-Baden, Zürich und Shamkir bereits vier Superturniere - mit gemischten Ergebnissen. Zuletzt könnte man Shamkir als Erfolgserlebnis bezeichnen, wäre da nicht die unnötige Niederlage gegen Carlsen - aber der ist in Khanty-Mansiysk nicht dabei. Welches Ergebnis er braucht, liegt vor allem am Ergebnis der Konkurrenz. [Der Vollständigkeit halber: Momentan ist Mamedyarov noch Zweiter der GP-Gesamtwertung, aber er hat seine drei Turniere bereits gespielt. Ihn wird Caruana bereits mit einem letzten Platz in Khanty-Mansiysk überholen.] Ich zeige Caruana zusammen mit Gelfand - sie dominierten gemeinsam das erste Turnier in Baku (das direkte Duell bereits in Runde 2 endete remis), aber Gelfand landete dann in Taschkent am anderen Ende der Tabelle.
Nakamura (207 GP-Punkte) tankte dieses Jahr jede Menge Selbstvertrauen, für sich selbst und vielleicht oder vor allem auch für seine Fans. Dabei hatte er vor allem (Gibraltar, US-Meisterschaft, zuletzt italienische Liga) Gegner mit Elo unter 2700. Beim einzigen Superturnier in Zürich profitierte er davon, dass Caruana eine bessere Stellung überzog und Karjakin eine theoretisch bekannte Remisvariante nicht reproduzieren konnte. Wie aussagekräftig das alles für das GP-Turnier ist und ob er seine Form konservieren kann (war in der Vergangenheit nicht immer der Fall) müssen wir abwarten. Hatte ich bereits erwähnt, dass Schach am Brett entschieden wird und nicht nach Elo (Summe früherer Ergebnisse gegen alle möglichen Gegner)? In Khanty-Mansiysk muss er Tomashevsky oder Caruana oder beide in der GP-Gesamtwertung überholen. Welches Ergebnis er dafür braucht, wird sich im Turnierverlauf ergeben. Das Foto stammt ebenfalls vom ersten Turnier in Baku - Nakamura damals ohne Bart:
Gelfand und Jakovenko (beide 170 Punkte) sind in der Gesamtwertung zumindest nicht völlig chancenlos, brauchen aber wohl den ungeteilten Turniersieg in Khanty-Mansiysk. Für Jakovenko wäre das wohl der grösste Erfolg seiner Karriere, auch wenn er bereits ein "kleines" Superturnier in Poikovsky 2007 sowie die Europameisterschaft 2012 gewonnen hat. Für Gelfand wäre es ein weiterer Höhepunkt seiner langen Karriere mit Höhen und Tiefen - bereits erwähnt: auch in der laufenden GP-Serie hatte er schon beides. Wenn es mit der Punktlandung klappen sollte, müssen immer noch zwei von drei anderen Ergebnissen eintreten: Tomashevsky wird nicht mindestens ungeteilt Vierter, Caruana wird nicht mindestens ungeteilt Dritter, und Nakamura nicht ungeteilt Zweiter. Falls Caruana Dritter wird, herrscht Gleichstand (170+170 = 230+110 = 340) - dann zählen als nächstes Brettpunkte, und da hat Caruana derzeit einen recht komfortablen Vorsprung auf Gelfand und Jakovenko.
Gelfand hat dieses Jahr nur die Mannschafts-WM gespielt. Sein Ergebnis dort (neunmal Remis) reicht in Khanty wahrscheinlich auch dann nicht, wenn er die beiden verbleibenden von elf Partien gewinnen sollte. Jakovenko spielte nach dem GP-Turnier in Tiflis noch zweimal Bundesliga, vier Partien bei der Mannschafts-WM (2/4 war für seine Verhältnisse und an seinem Brett nicht besonders toll), und gerade noch durchaus erfolgreich (4,5/6) bei der russischen Mannschaftsmeisterschaft. Sein Foto - Gelfand hatten wir bereits - stammt vom Turnier in Tiflis.
Karjakin (157 Punkte) kann sich mit einem ungeteilten Sieg in Khanty-Mansiysk eventuell auch noch für das Kandidatenturnier qualifizieren. Ich will nicht aufbröseln, welche anderen Ergebnisse er dann braucht - und auch nicht, ob Spieler mit 122 oder weniger Punkten ebenfalls noch theoretische Chancen haben. Für diesen Rest ist es wohl eher ein normales Superturnier. Ich gehe davon aus, dass sie - trotz vielleicht geringerer Motivation - als Profis versuchen werden, zumindest ordentliche Partien zu spielen. Einige sehen es wohl gerne, wenn Caruana und/oder Nakamura sich über die GP-Serie für das Kandidatenturnier qualifizieren - dann verlassen sie nämlich das (weiterhin und vermutlich bis zum Schluss) spannende Rennen um die beiden Eloplätze.
Zuletzt: Wind of Change in der Schachszene? Im Rennen um die beiden Plätze für das Kandidatenturnier sind ein junger Spieler (Caruana - 22), drei mittelalte (Nakamura und Tomashevsky, beide 27 sowie Jakovenko, 31) sowie Altmeister Gelfand (46), eventuell mit Karjakin (25) noch ein junger bis mittelalter Protagonist. Andere junge Spieler - Giri und Vachier-Lagrave in dieser Serie, Ding Liren und So die sich nicht qualifizieren konnten - sind frühestens im nächsten WM-Zyklus dabei. Es sei denn, sie qualifizieren sich noch via Weltcup oder Elo. Für Wei Yi wird es vermutlich frühestens der übernächste WM-Zyklus. Ich habe übrigens (Wikipedia weiss alles) überrascht festgestellt, dass es die eingangs erwähnten Bands nach wie vor oder wieder gibt, die Scorpions feiern dieses Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum.
Nebenbei: die neue Chess Tour machte zumindest viel PR-Wind, wobei eine bereits erwähnte Persönlichkeit der Schachszene (Kasparov) ordentlich mitmischt. Bei der Pressekonferenz sagte Kollege Nigel Short "wir sind viel besser als die GP-Serie!". Fünf Teilnehmer der Chess Tour waren auf eigenen Wunsch nicht bei der GP-Serie dabei (Carlsen, Anand, Topalov, Aronian und Kramnik - der auch auf die Chess Tour verzichtet) - niemand weiss, wie sie da abgeschnitten hätten. Zwei andere (Caruana und Nakamura) überzeugten (jedenfalls bisher) bei der GP-Serie, drei weitere (Grischuk, Giri und Ersatzmann Vachier-Lagrave) eher nicht. Die GP-Serie hat zumindest ein Existenzrecht, gerade weil Überraschungen (Tomashevsky, +- Gelfand) drin sind. Schach ist mehr als nur einige wenige ausgewählte 'Superstars'? Das ist jedenfalls meine Meinung.
Thomas Richter
// Archiv: Nachrichten Thomas Richter // ID 19751
Kommentare
Einen Kommentar schreiben
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.