25. Juni 2019
Schach kann vieles sein – Sport, Spiel, Wissenschaft, Kultur. Was viele nicht wissen: Schach kann auch in der Medizin bei der Therapie helfen. Prof. Dr. Sabine Vollstädt-Klein forscht als Leiterin der Arbeitsgruppe „Neuroimaging abhängigen Verhaltens“ des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim zu den Einsatzmöglichkeiten von schachbasierter Therapie als Zusatz-Intervention bei der Behandlung von Suchtkranken. Dazu führt sie ab diesem Sommer zwei wissenschaftliche Studien durch, bei denen Schach zur Stärkung der kognitiven Funktionen als „Therapie-Add-On“ zum Einsatz kommt. Dies soll einen positiven Effekt auf den Behandlungserfolg haben und auch zu messbaren Veränderungen im Gehirn führen. Sie ist Gründungsmitglied der International Society for Applied Chess (ISAC), welche die Anwendung von Schach zum Beispiel in der Psychotherapie, der Rehabilitation von Patienten und bei der Arbeit mit Flüchtlingen oder autistischen Kindern unterstützt. Wir haben sie zu ihrer Forschung interviewt.
Wie lange forschen Sie bereits am Thema Schach als Therapieunterstützung?
2015 hat mich der Schachjournalist IM Stefan Löffler zur London Chess Conference eingeladen, um über mögliche positive Effekte von Schach bei Suchterkrankungen zu referieren. Dort habe ich den spanischen Schachjournalisten Leontxo García getroffen, der mir Kontakte zum Magic Chess Club (Club de Ajedrez Magic, deportivo y social) in Mérida, Spanien, vermittelte. Das dortige Team um den Club-Präsidenten und Psychologen Juan Antonio Montero Aleu wendet seit über 15 Jahren erfolgreich ein selbst entwickeltes schachbasiertes kognitives Training, u.a. bei Suchtpatienten, an.
Meine aktive Forschung zu dem Thema beginnt erst jetzt. Ich musste zuerst Fördermittel erlangen, was mir nun für zwei Projekte gelungen ist. Ich werde das schachbasierte kognitive Training des Magic Chess Clubs in Studien mit Alkoholabhängigen und Rauchern anwenden.
Welche positiven Effekte kann Schach ganz allgemein auf die kognitiven Fähigkeiten haben?
Es gibt einige Studien über den Zusammenhang von Schachpraxis und kognitiven Fähigkeiten. So wird Schachspielen als protektiv gegen dementielle Erkrankungen diskutiert. Eine Studie bei Kindern zeigte einen positiven Einfluss von Schach auf Aufmerksamkeit, Ablenkbarkeit, planerische Fähigkeiten und Problemlösen. In einer weiteren Studie bei Erwachsenen waren Schachspieler Nicht-Schachspielern in planerischen Fähigkeiten überlegen. Schach wird nicht nur zur Verbesserung kognitiver Fähigkeiten diskutiert. Es wird auch als förderlich für die soziale Entwicklung angesehen.
In welchen Bereichen kann Schach als „Therapie-Add-On“ helfen?
Schachbasiertes kognitives Training kann in allen Bereichen eingesetzt werden, in denen auch klassisches kognitives Training eingesetzt wird, beispielsweise bei Schizophrenie, ADHS, Ess-Störungen oder bei dementiellen Erkrankungen. Schachbasierte Therapie hat aber weitere entscheidende Vorteile. Es ist weniger „langweilig“ als traditionelle kognitive Trainings und bietet die ideale Grundlage für die weitere Beschäftigung mit Schach in der Freizeit, was wiederum soziale Kontakte fördern kann. Bei der Arbeit mit Patienten, die kein Deutsch sprechen oder mit Flüchtlingen kann schachbasierte Therapie gut eingesetzt werden, weil man mit einem kleinen Wortschatz auskommen kann und weil Schach oft auch aus der Heimat bekannt ist.
Wie kann Schach konkret in der Therapie eingesetzt werden?
Wenn ich von Schach als Therapie-Add-On rede, meine ich in erster Linie schachbasiertes kognitives Training. Es kann zwar auch vielversprechend sein, mit Patienten Schach zu spielen oder sie anzuleiten, untereinander Schach zu spielen. Aber die Kollegen aus Meridá berichten, dass klassisches Schach nicht von allen Patienten gut angenommen wird. Mit der schachbasierten Therapie haben sie quasi bei allen Patienten gute Erfolge. Man muss dazu kein guter Schachspieler sein. Schach dient dabei lediglich das Werkzeug.
Die Therapeuten des Magic Chess Club wenden das schachbasierte kognitive Training in Gruppentherapien an, bei denen mit einem Demo-Brett gearbeitet wird, zu dem im Laufe der Therapiesitzung jeder Patient gebeten wird, um eine Aufgabe zu lösen.
Wie „wirkt“ Schach bei Suchtkranken?
Interessanterweise überlappen die bei Abhängigkeitserkrankungen beeinträchtigten Funktionsbereiche und Hirn-Netzwerke stark mit denen, die durch schachbasiertes kognitives Training oder Schachspielen gefördert werden können. Insbesondere eine Stärkung von Regionen der kortikalen Kontrolle und Entscheidungsfindung könnte präventiv für einen Rückfall sein.
Gibt es auch Risiken?
Ich sehe wenige Risiken bei der Anwendung von Schach in der Therapie. Natürlich könnte sich eine Sucht von Substanzen auf das Spiel Schach verlagern. Aber dass ein Patient tatsächlich „schachsüchtig“ wird, ist sehr gering. Etwas gefährlicher ist die Tatsache, dass Schach häufig in Lokalen gespielt wird, wo auch beispielsweise Alkohol oder Zigaretten konsumiert werden. Suchtpatienten sind an solchen Orten häufig rückfallgefährdet.
Was erhoffen Sie sich von den anstehenden Studien?
Zum einen wollen wir die Wirksamkeit des schachbasierten kognitven Trainings untersuchen, um es ggf. breiter anbieten zu können. Zum anderen untersuchen wir die neurobiologischen Wirkmechanismen der schachbasierten Therapie, was auch zu einem erweiterten Verständnis der neurobiologischen Mechanismen bei Suchterkrankungen beitragen kann.
2012 gab es in Spanien bereits ein Projekt zu Schach als Therapieform bei ADHS. Gibt es Parallelen zu Ihren Studien?
Vermutlich meinen Sie die Studie, die 2016 von Blasco-Fontecilla und Kollegen publiziert wurde. In dieser Studie fand sich eine Reduktion der ADHS-Symptomschwere nach einem 11-wöchigen Schachtraining bei Kindern mit ADHS, und es gab einen Zusammenhang zwischen dieser Verbesserung und der Intelligenz. Die Parallelen liegen in den ähnlichen Funktionsbereichen, die bei ADHS und Suchterkrankungen beeinträchtigt sind, z. B. Impulsivität und Aufmerksamkeit. Wir erwarten einen positiven Effekt auf den Behandlungserfolg, der über ebendiese Domänen wirkt. Leider gab es in dieser Studie keine Kontrollgruppe, also Kinder, die kein Schachtraining erhielten. Wir werden in unseren Studien auch Kontrollgruppen mit Standard-Behandlung bzw. mit einem anderen Add-On-Treatment untersuchen.
In Bremen ging gerade ein Pilotprojekt zu Ende bei dem die Grundschüler einmal die Woche eine reguläre Unterrichtstunde Schach hatten. Kann Schulschach den Kindern helfen, sich besser in der Schule zu konzentrieren und vielleicht sogar ADHS vorbeugen?
Das Projekt sollte unbedingt weitergeführt werden. Die von mir vorhin erwähnte Studie bei Kindern hat positive Effekte u.a. auf Aufmerksamkeit und Problemlösen gezeigt. Auf der London Chess Conference 2017 wurde eine Studie vorgestellt, bei der eine Gruppe von Kindern eine Stunde Schach in der Woche hatten, dafür eine Stunde Mathematik weniger. Erstaunlicherweise waren die Mathe-Leistungen in dieser Gruppe signifikant besser als in der Gruppe ohne Schach, die dafür eine Stunde mehr in Mathe unterrichtet wurden. Zum Thema ADHS: Diese Erkrankung hat eine hohe erbliche Komponente. Schach kann trotzdem zur Prävention, vor allem aber zur Minderung der Symptomschwere zum Einsatz kommen.
Zum Abschluss möchte ich noch Werbung in eigener Sache machen. Ich suche für eines der Projekte noch einen Doktoranden. Schachpraxis oder eine gute Spielstärke ist keine Voraussetzung. Es zählt lediglich die wissenschaftliche Qualifikation. Jedoch ist die Stelle sicher besonders interessant für Schachspieler.
// Archiv: DSB-Nachrichten - DSB // ID 23458